Die Ketzerbibel
Er beobachtete ihre Kehle, die leicht gebräunte Haut, wie sich der zierliche, kaum sichtbare Kehlkopf bewegte, als der Schluck herunterrann.
«Es ist Cidre. Das wird im Norden viel getrunken, wo sie keine Trauben haben. Er wird aus Äpfeln gemacht – im Herbst.»
Herbst, kalte Morgen, nasse Tage, verrottendes Laub, die Sonne, die an Kraft verliert …
«Wir haben Wein getrunken, keinen Cidre.»
Carolus seufzte und versuchte es wieder mit Düften. Er schaute sich um und griff das Naheliegende, bückte sich und zerrieb eine Kamillenblüte zwischen seinen Fingern.
Sie neigte den schlanken, langen Hals, sog das bittersüße Aroma ein – richtete sich auf und saß ganz still. Ihre Augen waren in die Ferne gerichtet.
Ein Mann sitzt am Straßenrand. Er sitzt auf einem Stein inmitten des verwelkten Grases im fahlen Winterlicht. Raureif weißelt die gezackten Ränder der Gräser, die braunen Samenkapseln, die Grannen des wilden Korns und die zusammengerollten, vertrockneten Blätter. Sie läuft gen Süden, folgt der Straße, ohne nachzudenken,
ohne Ziel. Es geht sich besser jetzt, da die ersten Fröste den Schlamm gefestigt haben. In den Wagenspuren haben sich Eiskrusten gebildet, die sie meidet, weil sich darunter noch schlammiges Wasser befindet. Ihre Schuhe sind verschlissen. Das Oberleder ist rissig, die Sohlen haben Löcher.
Als sie näher kommt, erkennt sie, dass es ein alter Mann ist, ein Bettler, wie sie. Er hat sich auf diesem Stein zum Bleiben eingerichtet. Ruhig sitzt er da, die Hände auf dem knotigen Griff seines Wanderstocks gefaltet, und wartet.
Sie wechselt die Straßenseite, bleibt vor ihm stehen. «Kann ich dir helfen, Väterchen?» Er hebt die Augen, lächelt ein Winterlächeln, matt und wissend. So trübe seine Augen auch sein mögen, so ist doch ein Schleier fortgezogen worden. Er sieht mit völliger Klarheit, und sein Blick sagt ihr, dass sie ihn nicht trösten noch aufmuntern kann. Die Zeit der Wünsche und Hoffnungen ist vorüber.
«Niemand kann mir helfen. Aber Gott segne dich dafür, dass du angehalten hast meinetwegen.»
«Was ist mit dir?» , beharrt sie. «Kannst du nicht weiter? Hast du Hunger? Willst du ein Stück Brot?» Sie nestelt aus ihrem zerschlissenen Umhang einen alten Kanten, den sie sich aufgehoben hat für den Moment, da der Hunger schmerzen wird.
«Behalt dein Brot. An mich ist es verschwendet. Ich sterbe ohnehin.»
Sie ist empört. «Aber doch nicht hier! Nicht so, am Straßenrand.»
Er lacht, stoßartig, kurz und pfeifend. «Warum nicht? Auf der Straße hab ich gelebt, auf der Straße werd ich sterben.»
«Einfach so?»
«Einfach so. Ich kann nicht weiter. Also bleibe ich hier hocken, bis ich umfalle. Lang wird’s nicht dauern.»
Damit gibt sie sich nicht zufrieden. Nicht eher gibt sie Ruhe, als bis sie einen besseren Platz für ihn gefunden hat.
«Warte!» , sagt sie.
Er grinst schlau: «Ich geh nicht weg.»
Sie verschwindet, kommt wieder: «Ich habe eine leere Schäferhütte gefunden, nicht weit von hier. Da kannst du dich hinlegen. Das ist doch besser, oder nicht? Es wird bald regnen.»
Er schüttelt den Kopf, dass jemand sich so viel Mühe seinetwegen macht. Aber er lässt sich hochziehen, da es ihr wichtig zu sein scheint. Sie legt seinen Arm um ihre Schultern und schleppt ihn zu der Hütte. Mit Gras macht sie ein Lager für ihn, sucht Holz, macht ein Feuer.
«Tut das nicht gut? Ist das nicht besser?»
Ein angeschlagener Topf findet sich in einer Ecke. Sie reibt ihn mit Sand aus, schmilzt Schnee über dem Feuer, kocht ein paar verwelkte Kamillen darin.
Er trinkt in kleinen Schlucken. Sie taucht den Brotkanten ein, und sie essen ihn.
«Du bist keine von uns» , stellt er fest.
«Wie – von uns?»
«Keine berufsmäßige Bettlerin. Dir fehlt es an Gelassenheit. Du wehrst dich gegen das Schicksal. Das ist nicht gut. Es macht es dir nur unnötig schwer.»
Sie schweigt, denkt, dass sie doch nichts anderes tun kann als laufen, laufen.
«Du glaubst noch, dir gebühre etwas Besseres.» Sein spöttisches Lachen geht in Husten über.
«Jedem gebührt etwas Besseres als das! Jedem Menschen!»
Er ist ein alter Bettler. Was weiß er schon? Doch er hat sie durchschaut. Am Morgen ist er tot. Sein Gesicht sieht friedlich aus. Die Erde ist gefroren, sie kann ihn nicht begraben, hat auch kein Werkzeug dazu. Sie geht weiter, gen Süden.
Tränen liefen über ihr Gesicht.
«Was habt Ihr gesehen? Ihr habt Euch an etwas erinnert, ich sehe es genau!»
«Ach, es
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