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Die Ketzerbibel

Die Ketzerbibel

Titel: Die Ketzerbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Klee
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war nichts. Nur ein alter Mann, der gestorben ist. Ich habe ihn nicht einmal gekannt.»
    «Wo war das, wann?»
    «Irgendwo an der Straße. Irgendwann im Winter. Ich weiß es doch nicht!»
    Die Erinnerungen kamen häufiger jetzt. Sie bemühte sich darum, sie vor ihm zu verbergen. Ja, sie bemühte sich darum, sie vor sich selbst zu verbergen. In den Erinnerungen zu baden, das war wie eine üble Sucht, als ob man den Drang verspürt, an einem Schorf zu kratzen, auch wenn die Wunde darunter dann von neuem aufreißt und das Blut hervorschießt.
    Carolus trocknete ihre Tränen und kam sich schlecht vor, weil er sie zum Weinen gebracht hatte.
    Calixtus war inzwischen zu einem Punkt auf dem Dach vorgerückt, von dem aus er eine bessere Einsicht in den Garten hatte. Stirnrunzelnd beobachtete er, wie Carolus mit seinem Taschentuch Danielles Gesicht betupfte. Es lag etwas Zartes darin, ein wenig mehr, als es die Fürsorge des Arztes für die Patientin erforderte. War das noch anständig? Sollte er eingreifen, sich bemerkbar machen? Und saßen sie nicht ein wenig zu nahe beieinander? ‹Ach was›, sagte er sich. ‹Du wirst noch so verbiestert wie Abbé Grégoire, der Frauen nachgerade verabscheut.› Da kam auch die alte Alix um die Ecke der Weberei geschlurft. Calixtus griff nach der Axt an seinem Gürtel und begann das neue Balkenstück einzupassen.
    Unten auf der Bank wechselte Carolus den Ton, erzählte von den Einbildungen seiner Patienten und von abstrusen Kuren. Von der Patientin etwa, deren Schwermut angeblich mit keinem anderen Mittel zu heilen war als mit dem Muschelkonfekt aus der Apotheke, das aus Zucker und gestampften Mandeln bestand. Von der Frau, die bei Vollmond zum Fluss gegangen war, um einer Trauerweide ihre Warzen anzuhexen, und sich dabei einen Dauerschnupfen geholthatte. Von dem Alten, der sich von einem Quacksalber ein Haarwuchsmittel hatte bereiten lassen, das er aber vorsichtshalber erst seinem Hund auftrug, der davon prompt kahl und räudig wurde. Von der jungen Frau, die die Heilige Jungfrau um einen Mann gebeten hatte und später behauptete, die habe es falsch verstanden und ihr ein Kind geschickt.
    Danielle! Wie sich ihr Gesicht veränderte, wenn sie lachte! Ihr Lachen kam ihm vor wie die ersten Sonnenstrahlen nach einem schweren Regen, wenn alles glänzt und funkelt, der erste richtige Frühlingstag nach dem Winter. Ihre Züge belebten sich. Sie vergaß ihr Misstrauen und rückte auf der Bank näher an ihn heran, so nah, dass er die feinen goldenen Härchen auf ihrer Oberlippe sah und durch ihr hässliches, formloses Kleid ihren Duft wahrnahm.
    Alix schlappte heran. «Na, ihr junges Volk, was gibt es denn zu lachen?»
    «Das wird dir gefallen, Alix», lachte Danielle. «Er hat gerade erzählt, wie er einem Patienten mit Husten aus Versehen ein Kraut gegen Verstopfung mitgegeben hat!»
    «Und, was ist passiert?»
    «Als ich den Mann das nächste Mal getroffen habe», erzählte Carolus grinsend, «da habe ich ihn gefragt, ob er noch so viel hustet. Nein, hat er gesagt. Ich trau mich nicht mehr.»
    Alix brüllte los wie eine Waschfrau, laut und mit weitgeöffnetem Mund, sodass man ihre braunen Zahnstumpen sah.
    «Haaaa-ha-ha!» Sie schlug sich auf die Schenkel. «Das ist gut! Das ist wirklich gut! Dann hat es ja gewirkt! Haaa-ha-ha!»
    Sogar Calixtus auf dem Dach musste lächeln, obwohl er gar nichts verstanden hatte.
    «Au, verflixt!», schrie in diesem Augenblick Magdalène.
    «Das kommt davon, wenn man nicht hinschaut, was man tut!»
    Danielle sprang auf und lief zu ihrer Freundin. Carolus folgte ihr. Magdalène hatte die Schüssel mit den geputzten und geschnittenen Pastinaken fallen lassen. Sie hielt sich den linken Arm und saugte daran.
    «Lass sehen», befahl Carolus.
    Es war nur ein winziger Schnitt, der kaum blutete. Das Küchenmesser lag auf der Erde, neben den verschütteten weißen Rübenstücken.
    «Ich habe nach euch geschaut, warum ihr so schrecklich gelacht habt, und dabei weiter Rüben geschnitten. Da bin ich wohl abgerutscht und habe mich mit dem Messer geritzt. Es ist nichts. Nur ein winziger Pikser.»
    «Ja, aber wasch ihn trotzdem gut aus», mahnte Danielle.
    Annik kam aus der Küche gerannt und sah die Bescherung: «Ach herrje! Die schönen Rüben. Sieh nur, was du gemacht hast. Jetzt sind sie alle voller Sand! Wer soll denn das essen!»
    «Nun hör schon auf zu zetern, Annik! Sie war doch nur einen Augenblick unaufmerksam», sagte Danielle.
    «Man soll seiner Arbeit die ganze

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