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Die Ketzerbibel

Die Ketzerbibel

Titel: Die Ketzerbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Klee
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luftigen Aussichtsplatz dem Blick entzogen. Die Oberstadt erschien als ungebrochene Ebene in lichten Orange- und Gelbtönen aus diesem Blickwinkel.
    Calixtus hatte einen Teil des Schlafsaals abgedeckt und reparierte den Dachstuhl, der von Ameisen angefressen und morsch geworden war. Unter sich sah er den Hof des Konvents, den Herbularius und den Hortulus. Er sah Alix, die sich bei ihren Kohlköpfen zu schaffen machte, Garsende, die vor der Weberei stand und eifersüchtig zu den beiden auf der Bank herüberlugte, Magdalène, die mit einer irdenen Schüssel auf dem Schoß auf der Küchentreppe hockte und Gemüse putzte. Aus der Küche hörte man Annik ihre Helferin schelten, die etwas umgeworfen hatte. Aus derWeberei klang das gleichmäßige Klappern und Rattern der Webstühle herauf.
    Nur von Carolus und der Begine Danielle sah und hörte man keinen Ton, obwohl sie doch dort unten auf der Bank am Brunnen saßen. Calixtus reckte den Hals. Dort blitzte ein wenig brauner Stoff durch von Danielles Rock. Carolus war ganz und gar hinter dichtem Lorbeer verborgen. Calixtus zuckte die Achseln und hämmerte weiter. Was konnten die zwei schon tun, so im Freien und unter Beobachtung?
    Sie konnten sich tief in die Augen schauen.
    ‹Es ist doch eigenartig. Ich habe mich nie besonders für Frauen interessiert›, dachte Carolus. ‹Es ist zwar abgemacht, dass ich heiraten soll, und sie ist auch hübsch, die Verlobte, die sie mir gegeben haben, aber noch niemals habe ich mehr als eine körperliche Regung empfunden, wenn ich an Frauen dachte. Dennoch: Diese hier – wenn ich in ihre bernsteinfarbenen Augen sehe, dann möchte ich diese Frau lesen wie ein Buch. Ich will wissen, was sie denkt und fühlt. Ich bin eifersüchtig auf die Geheimnisse, die sie mir vorenthält, auf das Leben, das sie ohne mich geführt hat, ja sogar auf ihre Schwestern. Carolus, Carolus! Denk an deine ärztliche Pflicht!›
    Danielle sah in seine grauen Augen und fühlte sich, als versinke sie in tiefem Wasser. Keinem von beiden fiel es auf, dass sie seit einer guten Viertelstunde kein Wort gesprochen hatten. Die Geräusche aus der Küche, das Hämmern und Klopfen vom Dach, das Schwatzen und Lachen aus der Weberei, das Summen der Bienen in den Blüten – das alles hatte sich von ihnen entfernt und hatte einer samtigen, weichen Taubheit Platz gemacht.
    Carolus kam jetzt alle zwei oder drei Tage. Sein Ehrgeiz sei geweckt, hatte er zur Infirmaria gesagt; er mache gewisse Fortschritte, zu Juliana. Doch es waren nur winzige Bruchstücke,die Danielle ihm hinwarf wie die Scherben einer in feinste Teile zerschlagenen Vase, die niemand mehr zusammensetzen kann.
    «Wovor fürchtet Ihr Euch am meisten?», hatte er sie gefragt.
    «Ich fürchte mich nicht.»
    «Das ist nicht wahr. Jeder fürchtet sich vor etwas: Vor Wasser? Nein? Vor Feuer? Vor Spinnen? Vor Schmerzen?»
    «Jeder fürchtet sich vor Schmerzen. Aber jetzt, in diesem Augenblick – welchen Grund hätte ich dazu?»
    «Und wenn Ihr wieder auf die Straße müsstet? Fürchtet Ihr die Unsicherheit, den Hunger?»
    Sie dachte nach. «Nein», erwiderte sie dann. «Ich wünsche es mir nicht. Aber Hunger ist nicht zum Fürchten. Und an die Unsicherheit kann man sich schnell gewöhnen. Man wird wie ein Blatt, das auf einem Fluss dahingetrieben wird. Man hört auf, vorauszuplanen, und setzt einfach einen Fuß vor den anderen.» Ihr Blick ging jetzt durch ihn hindurch. «Man glaubt immer, man brauche dieses und jenes und macht sich Sorgen um tausend kleine Dinge. Aber am Ende braucht man so wenig. Es genügt, einfach zu laufen und zu schauen.»
    Sie war so kühl, so gelassen. Er konnte es nicht glauben und bohrte weiter.
    «Aber es muss doch etwas geben, wovor Ihr Angst habt!»
    Eine gesichtslose Menge stand ihr vor Augen.
    «Vor Menschen», sagte sie.
    «Vor welchen Menschen? Doch nicht vor mir? Vor Euren Mitschwestern hier, den guten Beginen?»
    «Vor vielen Menschen zusammen fürchte ich mich, vor der vielköpfigen Bestie. Wer die nicht fürchtet, ist ein Narr.»
    «Das bringt mich nicht weiter», verzweifelte Carolus. ‹Es muss damit zusammenhängen, was ihr zugestoßen ist. Aberimmer wenn ich daran rühre, steht sie einfach auf und geht fort.› Wenn sie nicht sprach, dann redete er über sich selbst, nur damit sie bei ihm blieb.
    «Ich bin in Pertuis geboren. Ich habe drei Schwestern, alle älter als ich», erzählte er.
    «Die haben Euch sicher nach Strich und Faden verwöhnt», sagte Danielle.
    Carolus lachte,

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