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Die Ketzerbibel

Die Ketzerbibel

Titel: Die Ketzerbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Klee
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widerspenstig?›
    Er brachte ihr Dinge zu essen und zu trinken mit, auch destillierte Düfte und hoffte, damit eine Erinnerung hervorzulocken. Er verband ihr die Augen mit einem seidenen Tuch.
    «Kostet!», sagte er.
    «Ist es süß oder sauer?», fragte sie. «Ich mag es nicht, wenn ich das nicht vorher weiß.»
    «Süß», sagte er und steckte einen Holzspatel mit Honig zwischen ihre vorsichtig geöffneten Lippen. Sie schmeckte, leckte sich die Lippen, volle Lippen, die noch mehr an reife Früchte erinnerten, wenn sie feucht waren. Er konnte den Blick nicht abwenden.
    «Es ist Akazienhonig», stellte sie fest. «Ich erinnere mich, dass ich in meiner Kindheit einen anderen Honig gekostet habe. Er war bitterer, kräftiger. Honig aus der
macchia

    «Macchia?»
    «Das wilde Land, wo Oleander wächst, Zyklamen, Myrten, Zistrosen, Korkeichen und Schirmpinien. Die Hirten flämmen es von Zeit zu Zeit, damit Gras wachsen kann. So wachsen nur wenige Bäume hoch. Meist ist es niedriges Gestrüpp.»
    Ein Land aus Licht, knorrige Korkeichen, deren winzige, harte Blätter die Sonnenstrahlen durchlassen bis zum Boden. Graue Riesen mit dicker Borke, die an Brotkruste erinnert, auf den Wiesen kniehoch die Kräuter und wilden Blumen. Ein Schäfer sitzt im Gras bei seiner Herde, ebenso graubraun wie die Eiche, an die er sich gelehnt hat, wie das Gras, reglos, fast unsichtbar.
    Zio Franco hält sie an der Hand und zeigt auf eine niedrige Trockensteinmauer. Lass dich nicht auf einer Mauer nieder, bevor du nicht weißt, was darin verborgen ist. Er dreht mit dem Stock einen flachen Stein um, und siehe: Darunter wimmelt ein Nest kleiner Schlangen.
    «Ah! Bei uns heißt das
garrigue
. Aber hier gibt’s keine Schirmpinien und Korkeichen, davon habe ich nur gehört, aber nie eine gesehen. Hier gibt es Aleppopinien, Grüneichen, Ginster, Salbei und Thymian. Habt Ihr in so einer Heide gelebt? Wo war das? Wann? Waren Eure Eltern Bauern oder Landbesitzer?»
    «Keines von beidem.»
    Wieder eine Sackgasse. Er sann auf einen neuen Reiz.
    «Süß.» Er steckte ihr ein Stück Gebäck in den Mund.
    «
Susamelli
. Aber mit einem Geschmack, den ich nicht kenne. So etwas habe ich noch nie gekostet.»
    «Es ist Gewürzkuchen aus Belgien, mit Zimt, Muskat und Nelke.»
    «Nein, so kenne ich das nicht.»
    «Dieses ‹susamelli›, wie schmeckt das?»
    «Nach Honig und Mandeln, nach Zitronenschale.»
    «Und weiter? Denkt an diese   … susamelli: Könnt Ihr sehen, wer sie gemacht hat, erinnern sie Euch an eine bestimmte Person? An eine Gelegenheit, zu der Ihr sie gegessen habt?»
    La nonna Alba, Großmutter Alba. Dünn und länglich, als wäre sie aus Pastateig und man hätte eine dickere, kleinere Person in die Länge gezogen: Ein schmales Gesicht, eine lange Nase, lange, dünne Arme und lange, schmale Finger, die flink den Teig kneten, ihn rollen und wieder kneten. Es duftet nach gerösteten Mandelsplittern und nach Zitronenschale. Sie reicht knapp bis über den Tischrand und schaut der Nonna beim Backen zu. Großmutters Küche ist ein geschützter Ort voller Zauber. Es ist warm hier und riecht gut. Die älteren Brüder dürfen sie hier nicht ärgern. Niemand wird sie hier schelten, böse mit ihr sein, etwas von ihr verlangen. Hier muss sie keine Ansprüche erfüllen oder Regeln befolgen, um liebgehabt zu werden. Nonna Alba ist die Liebe und die Zuflucht selbst. Sie wünscht sich, sie könnte immer hier sein, an diesem Ort, in diesem Augenblick. Nonna Alba singt beim Teigausrollen und gibt ihr zwischendurch ein paar geröstete Mandeln. Sie wird eine Geschichte erzählen, während die Plätzchen backen, und dann werden sie die susamelli heiß essen, frisch aus dem Ofen. Nur sie beide, ohne die Brüder.
    «Und? Ist Euch etwas eingefallen?»
    «Nein.» Großmutter Alba gehörte ihr allein. Sie würde sienicht herausgeben. Unmöglich, es auch nur zu denken. Die kostbare Erinnerung müsste verblassen und ihren Zauber verlieren, ein für alle Mal, wenn man sie ans Licht brächte, unter fremde Augen, die sie nicht riechen und schmecken und fühlen können. Was könnte denn dieser freundliche, schöne, aber doch fremde Mann damit anfangen? Nichts! Worte waren zu schal dafür.
    «Susamelli werden überall im Süden gemacht, denke ich, und jede Frau hat ihr eigenes Rezept. Aber ich habe vergessen, wie das geht.»
    Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen.
    «Etwas zu trinken. Süßsauer.» Er setzte einen Becher an ihre Lippen und gab ihr Apfelwein zu trinken.

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