Die Kinder der Nibelungen (German Edition)
gebraucht hatte, aber schließlich war er nur noch wenige Meter von dem Gang entfernt, wo der Stab des Grauen immer wieder die Angriffe zweier Schwarzalben abwehrte. Die Schläge kamen immer blitzartig, wie zustoßende Schlangen, aber in längeren Abständen. Klar, lange würde der Alte das nicht mehr durchhalten.
Siggi beschloss, bis zum letzten Moment zu warten, dann würde er den Ring abnehmen und in den Gang stürzen.
Vorsichtig schlich er näher, sah dabei auf den Boden, um sich nicht durch einen lockeren Stein zu verraten, den er wegkickte. Jetzt war es Zeit für ein Dribbling anderer Art.
Drei Meter vor der Öffnung des Ganges hielt er an. Er holte noch einmal tief Luft.
Dann riss er sich den Ring von der Hand und schrie: »Gunhild, ich komme!«
Zwei, drei Schritte, und er stürzte sich in den Gang. Die Nachtgeschöpfe waren völlig überrumpelt und konnten nicht mehr eingreifen, und der Graue war geistesgegenwärtig genug, ihm auszuweichen.
Siggi und Gunhild fielen sich in die Arme …
»Wie hast du es geschafft?«, keuchte der Alte. »Wie bist du an den Swart-alfar vorbeigekommen?«
Siggi überlegte keine Sekunde.
»Ich hab’ sie ausgetrickst«, sagte er ganz in der Manier des Grauen, der nicht nachfragen konnte, weil die Dunklen wieder angriffen.
Der Graue wehrte sie mit seinem Stock ab, aber Siggi, der kurz zu ihm aufgesehen hatte, war klar, dass dies nicht mehr lange so weitergehen konnte.
Sollte schließlich doch alles umsonst gewesen sein? Er hatte sich für so klug gehalten, aber jetzt …
In diesen Moment der Verzweiflung klang hinter ihnen ein unerwarteter Laut auf, ein klarer, heller, durchdringender Ton. Der Hall eines einzelnen Hornsignals brach sich vielfach an den Felswänden und brauste wie ein Sturmwind durch die Gänge.
»Die Lios-alfar kommen!«, entfuhr es dem Alten. »Wir sind gerettet.«
Siggi und Gunhild fielen sich in die Arme.
Stumm, wie sie gekommen waren, zogen sich die Nachtgeschöpfe in die Dämmerung zurück.
4
Licht und Schatten
Die Raben kamen wie Schatten von Erinnerungen lautlos in den Gang geschwebt, ließen sich, als wäre nichts gewesen, auf der Schulter des Grauen nieder und begannen sich zu putzen.
Siggi blickte sich um. Der Stollen, in den sie sich geflüchtet hatten, erreichte nach der schmalen Öffnung, in der sie standen, schnell eine Breite von zwei oder gar drei Metern. Siggi stützte sich gegen die Wand, spürte den kühlen rauen Fels durch sein dünnes T-Shirt. Einen halben Schritt hinter ihm stand Gunhild, und auf der anderen Seite der Graue.
In der Stille waren aus der Tiefe des Ganges leise, aber deutliche Schritte zu vernehmen. Doch in dem fahlen Licht, das hier weniger stark war als in dem kristallerfüllten Höhlendom, konnte er noch niemanden erkennen.
Siggi spürte Gunhilds Blick und wandte sich um. Seine Schwester sah ihn an. In ihren Augen las Siggi das, was auch er fühlte: Unsicherheit. Er konnte seine Schwester so gut verstehen. Sein ganzes Leben lang hatten ihn Unsicherheit und Angst geplagt. Darum wusste er nur allzu genau, was in ihr vorging.
Allein die Ungewissheit jagte Gunhild fast schon mehr Furcht ein als die Schwarzalben. Ihr Selbstvertrauen, das war stets ihr Halt gewesen. Es hatte sie stark und oft genug zu Siggis Schutzschild gemacht, hinter den ihr kleiner Bruder flüchten konnte. Doch jetzt hatte sie zum ersten Mal völlige Hilflosigkeit verspürt – und was war an diesem ungewissen Ort überhaupt noch sicher?
Siggi kannte dieses Gefühl. Aber diesmal – er wusste nicht warum – schien er es in den Griff kriegen zu können, ohne davonlaufen oder sich hinter seine große Schwester verkriechen zu müssen. Bezwingen konnte er seine Angst zwar nicht. Doch er kam damit zurecht, nahm die Unsicherheit hin wie einen ungewollten Sitznachbarn im Bus.
Vielleicht lag es daran, dass er den Swart-alfar aus eigener Kraft entwischt war – natürlich dank des Ringes in seiner Tasche. Oder lag es vielleicht gar an dem Ring selbst, den er schwer an seinem linken Oberschenkel in der Hosentasche fühlte, dass er nicht das Opfer seiner eigenen Schwäche wurde?
Andere Fragen quälten ihn mehr, genau wie sie Gunhild auf der Seele lagen. Was, wenn der Graue sich geirrt hatte? Wenn da nicht die Lichtalben kämen, sondern ihre unheimlichen, finsteren Verfolger? Die hatten sie durch den Wald und dann wieder durch die Höhle gehetzt, wie eine Hundemeute den Fuchs jagt. Was, wenn die Lichtalben sie ebenso wenig mochten wie die
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