Die Kinder der Nibelungen (German Edition)
mit dem Licht des neuen Tages, würde der Bann von ihnen genommen, und sie konnten in ihre Welt zurückkehren, aber bis dahin waren sie Gefangene der Anderswelt. Das zumindest glaubte er ihrem Führer, der schweigend vor ihnen her stapfte und inzwischen an fast jeder Gabelung und Kreuzung verharrte.
Aber er brauchte ja nicht zu lügen, er brauchte nur nicht alles zu erzählen, was er wusste. Wie sagten Gunhild und er doch immer, wenn sie ein kleines Geheimnis vor ihrem Vater verbergen wollten: Er braucht es ja nicht unbedingt zu erfahren …
Und eben dieses Gefühl hatte Siggi bei dem Alten. Für ihn war es noch viel leichter, Dinge zu verbergen, ihnen vieles vorzuenthalten. Sie kannten sich in dieser Welt nicht aus. Siggi beschloss, sich bei nächster Gelegenheit mit Gunhild und Hagen zu besprechen; ja, auch mit Hagen, denn sie saßen zu dritt in der Klemme und mussten da gemeinsam auch wieder raus …
Vor ihnen öffnete sich der Raum. Für einen Moment stockte jedem der Kinder der Atem. Sie waren schon in großen Kammern und Sälen gewesen, aber der hier stellte alles bisher da Gewesene in den Schatten. Er war bestimmt an die hundert Meter lang, schätzungsweise sechzig Meter breit, und wie hoch dieser Höhlendom war, konnte Siggi nicht ermessen. Im dem diffusen, fahlen Licht war die Decke überhaupt nicht zu erkennen.
»Ja«, sagte ihr Führer. »Es ist ein Anblick, der auch mir immer wieder Bewunderung abnötigt.«
Überall glitzerte es, als würde Sternenstaub an den Wänden haften. Doch es waren Kristalle, die links und rechts von ihnen aus dem Boden wuchsen, und das schwache, kalte Licht brach sich darin in schillernden Reflexen, grün und blau und gelb, die weit in die Dämmerung streuten. Gebilde wie Eiszapfen zogen sich wie Gitter an den Wänden entlang; irgendwo tropfte Wasser, fiel mit einem klaren, glockenähnlichen Klang in ein unsichtbares Becken. Hier gab es wirklich Wunder zu schauen.
Siggi erkannte, dass ihr Führer sich erst wieder über den Weg klar werden musste, daher nutzte er ihr Staunen, um von seinen Problemen abzulenken.
Schon beim ersten Zählen hatte Siggi mindestens acht Gänge bemerkt, die aus dem Dom führten; als er genauer hinsah, konnte er über ein Dutzend ausfindig machen. Jetzt war der Graue gefordert. Wählte er den falschen Gang, mochte er sie direkt zu den Schwarzalben führen, und das wollte gewiss keiner von ihnen.
Doch die Entscheidung wurde ihnen abgenommen. Rechts von ihnen tauchten sieben oder acht untersetzte Gestalten aus dem diffusen Halblicht auf. Lautlos, unheimlich und gefährlich, genau wie im Wald.
»Da!«, rief Siggi aus, und die kalten Finger der Furcht griffen wieder nach ihm. »Schwarzalben!«
Der Kopf ihres Führers ruckte herum, als würde er aus einem Traum erwachen. Er murmelte etwas, das Siggi nicht verstand, aber dem Klang nach war es ein Fluch, den er zwischen den Lippen zerdrückte.
Hagen und Gunhild erstarrten, ebenso wie Siggi, dem es für einen Moment unmöglich war, sich zu bewegen. Er konnte seinen Blick nicht von den Wesen wenden. Der Name Schwarzalben war sicherlich zutreffend gewählt: Ihre Gesichter war dunkel wie altes, derbes, braunes Leder, und ihre Kleidung war nachtschwarz, auch dort, wo sie metallisch glänzte.
Der Nebel, erkannte Siggi, hatte ihnen keinen Streich gespielt: Diese Wesen waren klein und gedrungen. Hagen überragte sie deutlich, und selbst Siggi, der kleinste ihrer Gruppe, war größer als die Schwarzalben. Dafür wirkten sie unglaublich muskulös.
Die dunklen Gestalten waren keine kleinwüchsigen Menschen; die hatte Siggi schon gesehen. Irgendwie stimmten bei denen die Proportionen nicht, aber bei den Schwarzalben war es anders. Das ganze Volk schien von Natur aus so zwergenhaft zu sein.
Obwohl kleiner als Menschen, wirkten die Wesen bedrohlich; denn ohne jeden Zweifel waren sie stärker als sie. Und die Äxte in ihren Fäusten waren nicht dafür gebaut worden, Bäume zu fällen und Brennholz zu spalten. Das waren Waffen, Waffen für den Kampf. Waffen, um zu töten. Die großen, geschwungenen Klingen blitzten scharf.
Jetzt konnte der Graue zeigen, über welche magischen Kräfte er verfügte. Nur er konnte sie hier wieder rausbringen. Der Stab des Grauen würde bestimmt Blitze schleudern, um die Schwarzalben in die Flucht zu schlagen.
»Geht!«, rief der Graue. »Fort mit euch, Ymirs Gezücht! Erkennt ihr den einäugigen Wanderer nicht, der hoch über euch steht? Swart-alfar, ich befehle euch, geht zurück
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