Die Kinder der Nibelungen (German Edition)
vertraut. Und so war Odin verraten worden. Fast empfand Siggi ein wenig Mitleid mit dem Mann, der kleiner geworden zu sein schien – kein Gott mehr, sondern nur noch ein müder Greis, dessen letzte, verzweifelte Hoffnung sich als Illusion herausstellte. Seine Rechte wurde kraftlos, entließ Gunhild aus dem eben noch eisenharten Griff.
Siggi sah sich hastig um. Dies war die Gelegenheit; doch er musste versuchen, nicht nur Gunhild zu retten, sondern auch Laurion, den die Swart-alfar achtlos zu Boden geworfen hatten. Immerhin hatte er dem Lios-alf sein Leben zu verdanken. Und außerdem brauchten sie Laurion; denn ohne ihn den Weg zum Ausgang zu finden, das war kaum möglich.
Laurion hatte noch sein Schwert; die Swartalfar mussten ihm keine Gelegenheit gegeben haben, die Klinge blank zu ziehen. Aber noch viel wichtiger: Er trug die Wasserflasche bei sich. Auf dem Wasser lag der Zauber der Königin. Damit konnte Siggi den Lichtalben wieder auf die Beine bringen.
»Höre, Einauge!«, ertönte Alberichs tiefer Bass. »Sieh her!« Siggis Blick fuhr automatisch herum. Auch Odin hob das Gesicht, als folge er einem Befehl, und obwohl Siggi ihm nicht in die Augen schauen konnte, erkannte er doch, dass in dieser Geste keine Heuchelei lag, kein Hohn und keine Ironie. Siegvater war gebrochen, seine letzte Chance war vertan. Alberich triumphierte, und er nutzte seinen Sieg, um Odin zu demütigen. »Ich gebe diesen Speer meinem Sohn Hagen, dem Prinzen der Swart-alfar, auf dass er in meinem Namen damit große Taten vollbringe.«
Sohn!, hallte es in Siggi wider. Es musste eine Menge geschehen sein in den Stunden, die Hagen im Reich der Swart-alfar verbracht hatte. Wie tief mochte das Gift der Feindschaft bereits in dem Freund sitzen?
Hagen nahm mit beiden Händen den Runenspeer Odins entgegen.
»Seid bedankt für das Vertrauen, Vater«, sagte Hagen und neigte den Kopf vor dem Schwarzalbenkönig. Wieder wallte Zorn in Siggi auf, und wieder gelang es der Vernunft, den unbeherrschten Grimm niederzuringen. Seine Stunde würde kommen; er musste nur Geduld haben.
Zögere nicht zu lange!, schien etwas mit der Stimme des Donnerers in ihm zu sagen. Verschlafe nicht den Augenblick der Tat!
Siggis Blick fiel auf Laurion, dessen Gesicht ihm zugewandt war. Der junge Lichtalbe war bei Bewusstsein, und er zwinkerte Siggi zu, als wolle er sagen, dass er bereit sei. Siggi schob die Schlaufe, an der Mjölnir hing, um das Handgelenk, um den Hammer Thors nicht zu verlieren. Seine linke Hand tastete nach dem Beutel an seinem Gürtel.
»Und nun, Hagen, mein Sohn«, begann Alberich leise, fast schnurrend zu sprechen, bevor seine Stimme geradezu explodierte: »Töte ihn!« Sein Finger wies auf Siggi. »Töte ihn, denn er hat den Ring des Nibelungen, der mir gehört!«
Für einen Moment schien in Muspelheim jedes Geräusch zu verstummen. Die Stille war absolut. Alle in dem gewaltigen Felsendom erstarrten, als Alberichs Befehl wie ein Blitz zwischen sie einschlug.
Auch Siggi war für einen Augenblick wie gelähmt. Der Ring war kein Geheimnis mehr. Hagen hatte ihn verraten. Mit weit geöffneten Augen starrte er den schwarzhaarigen Jungen an, der nun der Prinz der Swart-alfar war. Quälend langsam hob Hagen den Speer, und die Spitze der Waffe wies genau auf Siggis Brust.
Täuschte Siggi sich, oder sah in den Augen Hagens tatsächlich ein Flackern, begann die eiserne Spitze des Runenspeers nicht leicht zu zittern? Siggi stand keine zehn Schritte von Hagen entfernt. Selbst ein Ungeübter musste auf diese Entfernung treffen.
»Töte ihn, Hagen!«, dröhnte Alberichs Stimme. »Töte Siegfried!«
Atemlose Stille lag über Muspelheim; die Spannung in der Luft war geradezu greifbar. Hagen hatte den Speer des Schicksals erhoben. Jetzt brauchte er nur noch die Spitze in Siggis Brust zu versenken, um dem Wunsch – nein, dem Befehl – seines Vaters nachzukommen.
»Wirf!«
Hagen zog die Hand zurück, bereit zum Wurf. Aber Siggi sah das unmerkliche Zittern in Hagens Muskeln, den winzigen Moment des Zögerns, bevor die Entscheidung fiel.
Jetzt oder nie!
Siggi griff in den Lederbeutel. Wie von selbst glitt der schwere, einfache Goldring über seinen Finger, und zugleich machte Siggi einen Satz auf die Stelle zu, wo seine Schwester stand.
In dem Augenblick, als Siggi den Ring des Nibelungen über den Finger streifte, verschwamm seine Gestalt und war nicht mehr zu erkennen. Nur einen Lidschlag später wurde auch Gunhild unsichtbar.
Alberich, die
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