Die Kinder der Nibelungen (German Edition)
Freund den Speer des Schicksals immer noch bei sich trug.
Doch Alberich schien es nicht zu kümmern. Der Nibelung stand regungslos vor dem schwarzen Amboss, um den sich in ewigem Kreis die Midgardschlange zog. Seine Augen waren schwarz wie Kohle, der Blick darin undeutbar. Dann schlang er den schwarzen Mantel um sich und verließ mit schweren Schritten die Feuer von Muspelheim. Er hatte einen Krieg zu führen.
Unsichtbar und vor allen Blicken verborgen, blieben Siggi und Gunhild zurück.
9
Das Halsband der Göttin
Gunhild löste sich von Siggis Schultern, wischte sich die Tränen aus den Augen und schniefte. Der Junge wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatten, aber es war für ihn ein schönes Gefühl, neben all der Trauer um Laurion und dem Unverständnis für Hagen, der auf die Einflüsterungen Alberichs gehört hatte, seiner Schwester einen kleinen Teil des Schutzes und Trostes wiedergeben zu können, die sie ihm früher immer gespendet hatte. Es war wie ein Lichtstrahl in der Dunkelheit.
Siggi fragte sich, ob die Schlacht, das Sterben zweier unversöhnlicher Völker, schon begonnen hatte. Ein Krieg, der nur Verlierer kennen würde. Er fragte sich, ob Laurion und Mîm nicht hätten Freunde sein können, wenn dieser Hass nicht gewesen wäre.
»Ist er …?«, fragte Gunhild.
»Ja«, antwortete Siggi, der wusste, wen Gunhild meinte. »Laurion ist tot. Er ist für uns gestorben«, erklärte er seiner Schwester. »Er hat tapfer gekämpft.«
Gunhild warf einen beinahe scheuen Blick auf den Kampfplatz. Sie ertrug es gefasst, den jungen Lios-alf, der sie durch so manche Gefahren geführt hatte, tot zu sehen.
»Was ist passiert? Warum konnte uns keiner sehen?«, fragte Gunhild.
»Wir waren unsichtbar und sind es noch. Es ist der Ring, den Hagen aus dem Brunnen geholt hat. Es ist der Ring des Nibelungen; du hast Alberich gehört. Der Ring macht seinen Träger und die, die er berührt, unsichtbar.«
Gunhild nickte nur.
»Wie bist du überhaupt hierhergekommen?«, fragte Siggi.
»Laurion und ich sind gemeinsam in die Tiefe gestürzt. Dann rutschten wir durch absolute Finsternis. Irgendwann kamen wir in einem kahlen Raum heraus. Dort hat uns Odin mit ein paar von den dunklen Kriegern erwartet. Er sagte: ›Ah, da kommt Alberichs Lohn mit einer hübschen Beigabe.‹ Der Alte lächelte dabei so komisch, als freue er sich schon auf einen Triumph.«
Gunhild machte eine kurze Pause, schloss die Augen, als wollte sie die Bilder dieses Augenblicks nach mal zu sich rufen.
»Dann«, fuhr Gunhild fort, »stürzten sich die Krieger der Schwarzalben auf Laurion und überwältigten ihn. Odin packte mich am Arm, und schleppte mich mit sich. Ich wehrte mich, aber der Alte war stärker.«
Siggi packte Mjölnir fester, während Gunhild erzählte. Der Zorn, der er schon bezwungen glaubte, erwachte wieder. Es drängte ihn danach, Odin den Hammer in die machtgierige Visage zu schlagen, um ihn mit seinem Mal zu zeichnen.
»Ich wehrte mich jedoch weiter«, fuhr Gunhild fort. »›Viel Macht ist mir nicht geblieben, aber das Wenige, das ich vollbringen kann, werde ich noch tun, widerspenstiges Midgard-Kind‹, sagte Odin zu mir. Dann öffnete er sein rechtes Auge – das, welches er immer geschlossen hat, weißt du. Es ist nicht tot. Was ich darin gesehen habe …« Sie schauderte, und Siggi hatte das Gefühl, als blicke seine Schwester in einen Abgrund, der ihm verborgen blieb. »Ich kann darüber nicht reden. Aber mit jedem Augenblick, den ich diesen Blick ertrug, hatte ich das Gefühl, einen Teil meines Willens zu verlieren. Und als ich völlig in seinem Bann war, schleifte er mich hierher.«
Siggi hielt sie einen Moment fest im Arm; dann sah er sich aufmerksam um, lauschte, und als er sicher war, dass niemand mehr in der Nähe von Muspelheims Feuern war, streifte er den Ring ab. Keiner, weder Mensch, Albe noch Gott, war da, um zu sehen, wie aus dem Nichts die Gestalten der beiden Kinder erschienen, die in einer einzigen Nacht mehr an Wunderbarem geschaut hatten als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Ihnen war ein Blick hinter die Schleier der Wirklichkeit vergönnt gewesen, ein Blick in eine fremde Welt, die voller Schönheit war, aber auch voller Schrecken. Und in einer Beziehung schien sie sich gar nicht so sehr von ihrer eigenen zu unterscheiden, denn auch hier gab es Hass, Habgier, Zorn und Gewalt.
»Wir sollten Laurion bestatten«, sagte Gunhild leise. »Wir können ihn nicht einfach hier liegen
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