Die Kinder der Nibelungen (German Edition)
sprach: »Ich habe einen bösen Traum gehabt, dass mein Leben in Gefahr sei, aber kann mich nicht mehr daran erinnern.« Da befragte Odin die Runen, und die Runen sagten ihm, dass Baldurs Tod der Anfang vom Ende der Götter sein würde.
Daraufhin versammelten sich die Asen zum Rate, und sie beschlossen, Feuer und Eisen und jeglichem Metall, Wasser und Stein, Bäume und Tiere und allem, was krank macht oder Gift in sich trägt, einen Eid abzufordern, dass sie Baldur kein Leid tun würden. Und alle Lebewesen und alle Dinge waren Baldur dem Schönen so zugetan, dass sie gelobten, ihm niemals ein Unheil zuzufügen.
Als eines Tages die Götter sich auf dem Idafelde zu Asgard damit vergnügten, Baldur auf die Probe zu stellen, und mit Stöcken und Steinen nach ihm warfen, ohne ihn zu verletzen, schlich sich Loki, der Baldur hasste, an den blinden Gott Höd heran und fragte ihn: »Warum wirfst du nicht auf Baldur?«
»Ich bin blind, und darum geben mir die anderen nichts, womit ich werfen könnte.«
»Dann nimm diesen Zweig hier, und erweise Baldur die Ehre.«
Der Zweig aber war ein Mistelzweig; denn Loki wusste, dass von allen Gewächsen nur die Mistel nicht hatte schwören müssen, weil man sie für zu jung und unreif hielt. Höd warf den Zweig, und Baldur sank zu Boden und war tot. Da weinten die Götter, und es weinte alle Kreatur; nur Loki konnte nicht weinen, und hätte auch er nur eine Träne vergossen, wäre Baldur gewiss von den Toten auferstanden. So aber musste Odins Sohn in das Reich der Hei hinabsteigen.
Für seinen Leib errichteten die Götter einen großen Scheiterhaufen, und Odin selbst gab Baldur seinen Ring Draupnir als Grabbeigabe, von dem jeden Morgen neun Ringe tropfen, und ehe er das Holz in Brand setzte, flüsterte er dem Toten etwas ins Ohr.
Loki aber banden die Götter, und sie warfen ihn in die tiefsten Höhlen von Muspelheim, dass er sich dort in ewigen Qualen winde, bis das Ende der Welt gekommen sei.
Darauf warf sich Odin seinen Mantel um und stieg hinab in die Unterwelt. Neun Tage und neun Nächte war er im Reich der Hei verschollen, bis die anderen Asen um ihn fürchteten. Doch keiner wollte es wagen, ihm zu folgen. Da spannte Thor seine beiden Böcke vor den Wagen, und mit ihnen eilte er durch die Luft zu den tiefsten Wurzeln des Weltenbaumes, wo das Reich der Tiefe beginnt. Doch er sah, dass der Weltenbaum angefangen hatte zu dorren, und die Nebel, die aus der Tiefe drangen, waren klamm wie die Finger des Todes. Und die Nornen sah er nicht.
Dafür traf er eine in Grau gehüllte Gestalt, die schweigend in der Dämmerung stand. Und sie sprach folgende Stäbe:
»Schwarz wird die Sonne, / es versinkt die Erde,
Vom Himmel schwinden / die heiteren Sterne
Rauch und Flammen / rasen umher.
Vieles weiß ich, / weit voraus schau ich
Der Welten Ende, / der Walgötter Sturz:
Schwertzeit, Beilzeit, / Schilde bersten,
Windzeit, Wolfzeit, / eh die Welt vergeht.
Brüder befehden sich / und fallen einander,
Geschwister sieht man / die Sippe brechen.
Der eine schont / den andern nicht mehr.
Was ist bei den Asen? / Was ist bei den Alben?
Yggdrasil zittert, / die Götter sammeln sich.
Zwerge stöhnen / vor steinernen Türen,
Wenn der Wurm erwacht – wisst ihr noch mehr?«
Keiner hat den Inhalt jenes Gesprächs je gekannt, das Odin und Thor an der Schwelle zur Unterwelt führten. Doch nun hatten sie einen Zeugen – einen Knaben aus Midgard, der unsichtbar bei ihnen war.
Thor sprach: »Dann gibt es keine Hoffnung mehr?«
»Die Götterdämmerung naht«, erwiderte der Graue. »Wer mag sie aufhalten?«
»Dann sag mir, was du dem Baldur ins Ohr geflüstert hast, als man ihn auf den Holzstoß band.«
Da sprach Odin zu Thor: »Hoffnung liegt allein in den Kindern, wenn mein Plan gelingt. Selbst Loki mag noch eine Rolle zu spielen haben vor dem Ende. Denn sind wir nicht Brüder, wir drei, Hoch, Ebenhoch und Dritt, wie Donner, Blitz und Sturm? Ehe das Ende hereinbricht, werden wir noch manchen mit uns ins Verderben reißen …«
… und der Hammer senkte sich zum dritten Mal!
Heller als das Licht im Auge der Götter ist die Flamme der Freiheit, die in der menschlichen Seele wohnt.
»Nein!«, rief Siggi.
Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Bewegung. Denn plötzlich hatte er erkannt, dass sie alle, Gunhild, Hagen und er, nur Teil eines teuflischen Plans waren, den Odin vor Urzeiten ersonnen hatte, um die Götterdämmerung zu verhindern – einen Plan, der beim ersten Mal misslungen
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