Die Kinder des Dschinn. Entführt ins Reich der Dongxi
– dessen Rezept er Ende des dreizehnten Jahrhunderts aus China mitgebracht haben wollte –, hatte Marco ihr immer wieder versichert, dass es viel, viel besser schmecke als chinesisches Eis. Und das war für Philippa keine große Überraschung. Sie war ebenfalls einFan von italienischem Eis. Außerdem begeisterte sich Marco für Pasta, Kaffee, Zigaretten, Bellini-Cocktails und natürlich für die Frauen von Venedig, die zu den schönsten in ganz Italien gehören. Kurz gesagt, er war auf dem besten Weg, ein typischer Italiener zu werden. Vom Fernsehen dagegen hielt er nicht sehr viel:
»Es wäre besser«, hatte er erklärt, »wenn es im Fernsehen nicht immer das Gleiche zu sehen gäbe. Dieser Zauberjunge, Jonathan Tarot, geht mir wirklich auf die Nerven.«
Auch darin mochte Philippa ihm nicht widersprechen.
Ein paarmal tauchte Schwester Cristina in der Galerie auf, um zu fragen, wie Philippa vorankam. Sie brachte ihr sogar ein Buch über das Rätsel des Kardinals Marrone mit, das ein gewisser Michel Bustinadité geschrieben hatte und in dem jedes Detail des Bildes und auch die verschnörkelte Zierleiste am unteren Bildrand abgebildet waren:
Philippa fragte sich, ob diese Leiste vielleicht einen Code enthielt; wie die tanzenden Schlangen, die sie, John und Dybbuk auf dem Bild entdeckt hatten, das sie auf eine Abenteuerreise nach Kathmandu und Lucknow geführt hatte. Infolgedessen verbrachte sie mehrere Stunden damit, den Schnörkeln irgendeine Botschaft zu entnehmen. Doch mit dieser Methode kam sie nicht weiter.
Müde vom vielen Nachdenken, legte sie sich auf die lange, ledergepolsterte Bank, die so bequem war wie ein Bett, und nach einer Weile schlief sie ein.
Sie erwachte mit schmerzendem Nacken. Im Schlaf war sie mit dem Kopf von der Bank gerutscht, und als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie alles verkehrt herum. Irgendwie schien ihr das Gemälde so verständlicher, was sie vermuten ließ, dass sie immer noch nicht ganz wach war. Sie schüttelte den Kopf und setzte sich auf. Es dauerte einen Moment, ehe ihr klar wurde, dass sie das Bild inzwischen aus allen möglichen Perspektiven, aber noch nicht verkehrt herum betrachtet hatte.
Sie riss sich die Jacke vom Leib und machte aus ihr eine Art Kissen, das sie auf den Boden vor der Wand legte. Mit dem Rücken zum Bild kniete sie sich hin, platzierte den Kopf auf ihrem selbst gebauten Kissen und ging in den Kopfstand. Zum Glück trug sie Hosen. Dennoch wurde sie von einer japanischen Touristengruppe misstrauisch beäugt. Philippa hoffte, den kritischen Blicken der Museumsangestellten lange genug verborgen zu bleiben, um eine Entdeckung zu machen, die unmittelbar bevorstehen musste.
»Heureka!«, flüsterte sie, während ihr das Blut in den Kopf lief und sie mit einem Mal begriff, was die römische Zahlengleichung zu bedeuten hatte. Auf den Kopf gestellt, wurde aus der Gleichung XI + I = X die Gleichung X = I + IX. Und das war völlig korrekt, denn zehn ist gleich eins plus neun. Und das wiederum bedeutete, dass das Bild als Botschaft vermutlich nur dann einen Sinn ergab, wenn man es auf den Kopf stellte. Was wiederum mit Sicherheit bedeutete, dass die Schnörkel der Zierleiste am unteren Bildrand ebenfalls verkehrt herum betrachtet werden mussten.
Aufgeregt glitt sie zu Boden, kramte den Zettel hervor, auf den sie die Schnörkel aus Bustinadités Buch übertragen hatte,und drehte ihn auf den Kopf. Schon nach ein oder zwei Sekunden wurde ihr klar, dass der Künstler einen ganz simplen Trick verwendet hatte. Er hatte eine geschriebene Zeile einfach auf den Kopf gestellt und sie damit so gut wie unleserlich gemacht. Nun aber konnte Philippa sie lesen. Der Halbengländer Daniele Marrone hatte die verborgene Botschaft in seiner englischen Muttersprache abgefasst und sie lautete:
Sei gegrüßt. Suche Die Globen Der Herren, Die Heil’ge Insel,
Das Einzelne Loch. Der Große Stein Birgt Güldne Freude.
Nun war es eine Sache, diese Nachricht zu kennen, aber eine ganz andere, sie auch zu verstehen. Diese Worte enthielten offensichtlich irgendwelche Anweisungen. Und höchstwahrscheinlich bezogen sie den Dogenpalast mit ein, da dieser im Mittelpunkt von Kardinal Marrones Gemälde stand.
Philippa zögerte keine Sekunde. Während sie eilig über den Markusplatz lief und einen Schwarm Tauben aufscheuchte, bemerkte sie, dass die Schlange vor dem Dogenpalast länger war als je zuvor und bis zum Canal Grande zu reichen schien. Doch hinein musste sie. Einige
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