Die Kinder des Dschinn. Gefangen im Palast von Babylon
für Sie, Sir. Wie lange sind Sie denn schon hier?«
»Schon lange Zeit.« Der König dachte einen Augenblick nach. »Warte mal. Es gibt hier einen Baum, in den mache ich immer Kerben, falls mich jemand danach fragen sollte. Aber du bist, nebenbei bemerkt, der Erste.«
Er kroch ins Dickicht, John und Finlay hinter ihm her. Auf einer kleinen Lichtung blieb der König stehen und zeigte stolz auf einen Baum, in den mehrere hundert Kerben geschnitten waren. »Hier ist er«, sagte er. »In diesem Baum sind genau 250 Kerben. Jede Kerbe steht für ein Jahr.« Aber schon hatte er ein besonders verlockend aussehendes Grasbüschel gefunden, er riss es ab und fing wieder an zu mampfen.
Da entdeckte John, dass es auf der Lichtung noch andere, ähnlich mit Kerben gekennzeichnete Bäume gab. Er zählte sie: es waren zehn Bäume mit je 250 und einer mit 65 Kerben. Der Mund blieb ihm offen stehen, als er nachrechnete. »Wollen Sie behaupten, dass Sie seit 2565 Jahren hier leben?« Und plötzlich glaubte er zu wissen, wer dieser König war.
»Lange Zeit«, sagte der König. »Eine lange Zeit für jemanden wie dich, der von außerhalb kommt. Aber nicht lange für hier. Nicht für Iravotum.«
»Aber haben Sie nicht versucht zu fliehen?«, fragte John.
Der König schüttelte den Kopf. »Wohin sollte ich gehen? Ich habe hier alles, was ich brauche. Saftiges Gras in Hülle und Fülle.« Er ließ wieder einen fahren.
»Ja, ich kann sehen und hören, wie glücklich Sie das macht«, sagte John.
Der König lächelte sein grünes Lächeln und blickte träumerisch in die Wipfel.
»Der Hängende Palast von Babylon«, sagte John. »Ist der hier in der Nähe?«
»Du meinst Ischtars Palast?«
John nickte.
»Ja«, sagte der König. »Ganz in der Nähe.«
»Da muss ich hin«, sagte John.
»Jeder, der hierher kommt, will in Ischtars Palast. Sie werden dir dort aber nicht helfen.«
»Sie verstehen mich nicht. Die im Palast sollen mir ja gar nicht helfen. Aber meine Schwester lebt dort als Gefangene. Ich muss hin, sie befreien und zurück nach New York bringen. Das ist eine Stadt. Eine große Stadt. Größer als Babylon.«
Bei dem Wort Babylon blitzten die Augen des Königs auf. »Größer als die große Stadt Babylon? Wirklich?«
»Wirklich.«
»Und die Gebäude sehr hoch?«
»Höher als manche Berge.«
»Ich würde deine große Stadt gern mal sehen.«
»Dann schlage ich Ihnen ein Geschäft vor, Hoheit«, sagte John. »Bringen Sie mich in Ischtars Palast und ich bringe Sie nach New York.«
Der König nickte. »Es gibt einen Weg hinein. Niemand kennt ihn außer mir. Ich bringe dich hin. Und dafür bringst du mich nach New York, ja?«
John überlegte einen Augenblick. In New York gab es alle möglichen unzivilisierten Gestalten. Wer würde schon Notiz nehmen von einem Gras essenden Typen im Central Park?Selbst einem mit so langen Zehennägeln, wie sie der König hatte? Es gab texanische Öl-Milliardäre, deren Benehmen noch überspannter war. Außerdem, mit einer Maniküre, einem guten Haarschnitt, einer Einkaufstour auf der Madison Avenue, einer gründlichen Ernährungsberatung – kurz, mit einer Spur Dschinnkraft – ließe sich der König wohl ganz anständig zurechtstutzen.
»Kommen Sie«, sagte John. »Dann wollen wir gehen, bevor dieses Ding hinter uns herkommt.«
Der Junge John
Philippa hatte aufgehört, Tagebuch zu führen. Sie sah keinen Sinn mehr darin. Ihre früheren Gedanken und Überlegungen kamen ihr belanglos vor, sogar ein bisschen peinlich. Trotzdem brachte sie es nicht fertig, es zu vernichten. Auf gewisse Weise amüsierte es sie wie etwas, das sie als Baby besessen hatte. Statt in ihrem Zimmer zu sitzen und zu schreiben, verbrachte sie ihre Zeit nun hauptsächlich in der Bibliothek und las Bücher von Philosophen wie Aristoteles, Plato, Kant und Wittgenstein. Oder sie spielte mit Miss Glovejob und Ayesha Dschinnverso.
Inzwischen schien es ihr einleuchtend, dass Ayesha ihre Großmutter sein sollte. Es erklärte Ayeshas Interesse an Philippa. Es erklärte gewiss auch Ayeshas Auseinandersetzung mit Mrs Gaunt, die Philippa im Hotel Pierre in New York beobachtet hatte. Und warum ihre Mutter später so ausweichend geantwortet hatte. Es erklärte wahrscheinlich auch, warum weder ihre Mutter noch Nimrod je ein Wort von ihrer Mutter gesprochen hatten – Philippa hatte immer angenommen, ihre Großmutter sei tot. Und es erklärte eine gewisse Ähnlichkeit, die Philippa jetzt zwischen ihrer Mutter und
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