Die Kinder des Dschinn. Gefangen im Palast von Babylon
wie sie, sprach auch mehr oder weniger wie sie – aber sie reagierte kaum wie Philippa. Dieses schreckliche Mädchen benahm sich, als habe sie keine Ahnung, wer er sei. »Und hör auf, mich
Junge
zu nennen«, sagte er. »Ich bin dein Bruder John, du kleine Hexe.«
»Meine Güte«, lachte Philippa. »Wie brüderlich das klingt!«
»Und ich bin hier, um dich nach Hause zu holen«, sagte er und bemühte sich, ihren Einwurf zu überhören.
»Das hast du schon gesagt, Junge.« Philippa lachte verächtlich und versetzte John einen Schubs. »Vielleicht solltest du dir mal die Ohren sauber machen, nachdem du dir den Dreck aus deinen schauderhaften Fingernägeln gekratzt hast: Das hier ist ein Palast. Hier ist jetzt mein Zuhause. Hier und in den anderen Palästen, die Ayesha gehören. Sieh dich um. Großartig, nicht wahr? Mein Zimmer ist groß wie ein Tennisplatz. Ich schlafe in seidener Bettwäsche und esse von goldenen Tellern – wie kommst du bloß auf die Idee, ich würde mit dir nach New York gehen wollen? In diese Schachtel, die du Zuhausenennst?« Sie schubste ihn noch einmal. »Beantworte mir das, Junge, wenn du kannst!«
John blickte in das prächtige Treppenhaus und zu dem gewaltigen Kronleuchter. Er betrachtete all die schönen antiken Möbel und die herrlichen Gemälde. Auch sein Vater hatte schöne Dinge, aber doch nichts Derartiges. Und plötzlich, als sei Philippas Verachtung gerechtfertigt, fühlte er sich gedemütigt wie ein geprügelter Hund. Eigentlich hatte er nie darüber nachgedacht, aber jetzt, wo er dieses Gebäude sah, erschien ihm ihr Zuhause tatsächlich klein. Allmählich kam es ihm so vor, als sei ihr Haus in New York nicht mehr gut genug für Philippa. Als hätte sie ihn, John, bereits weit hinter sich gelassen. Kam er zu spät? Hatte sie sich schon für immer verändert?
»Na los, heul doch!«, sagte sie. »Du siehst nämlich aus, als möchtest du am liebsten heulen.«
»Nein«, sagte John.
»Doch«, sagte sie triumphierend und schubste ihn zum dritten Mal.
»Nein«, sagte John entschieden. »Und hör auf, mich zu schubsen, oder es tut dir noch leid.«
Philippa lachte. »Was kannst du mir schon tun?« Sie schubste ihn ein viertes Mal. »Junge.«
John wandte sich ab, sonst hätte er ihr wohl eine geknallt. Wie die meisten Geschwister hatten sie sich schon handfeste Keilereien geliefert. Einmal hatte Philippa ihm sogar einen Tritt in den Hintern gegeben. Aber es konnte doch nicht sein, dass er den langen Weg hierher gekommen war, um ihr einen Tritt zu verpassen! Genau dazu hätte er nämlich gute Lust gehabt.Er klammerte sich also an den Tisch, der in der Mitte der Diele stand, um nicht die Faust zu ballen und seiner Schwester eine reinzuhauen, wie sie es verdiente.
Auch Philippa wandte sich ab und setzte, immer noch lachend, den Fuß auf die Treppe. »Blöder Junge!« Sie murmelte noch etliche andere Gehässigkeiten, die John so dumm und minderwertig dastehen ließen, wie er es nie für möglich gehalten hatte – vor allem nicht jetzt, nachdem er seine nahezu unlösbare Aufgabe erfüllt hatte. Aber Philippa interessierte es nicht, wie ihm zumute war. Längst war ihr Inneres ausgedörrt vom Apfelsaft des Baumes der Logik und vom Einatmen des berauschenden Duftes seiner Blüten. Trocken und hart wie ein Stück Land nach schwerer Dürre.
John fand, es sei an der Zeit, dieses Stück Land zu bewässern. Er nahm die Blumen aus einer großen Vase, die auf dem Tisch stand, und warf sie auf den Teppich. Dann hob er die Vase samt Wasser hoch, und bevor Philippa wusste, wie ihr geschah, war er ihr ein paar Stufen gefolgt und hatte den Inhalt der Vase über ihrem Kopf ausgekippt.
Philippa stieß einen Schrei aus, als sich der Wasserfall auf sie ergoss. Für einen Augenblick blieb sie reglos stehen, wie unter Schock, denn plötzlich erkannte sie, wo sie war und was sie selbst beinahe geworden wäre. Endlich schien sie ihren Bruder zu erkennen.
»John!«, rief sie voll Freude. »Du bist da! Du bist endlich da!« Sie sah sich um und fragte: »Wie bin ich hierher gekommen?« Dann hängte sie sich an ihren Bruder und lachte und weinte vor Freude. Sie musste husten und spucken, weil ihr etwas Wasser in die Nase gestiegen war, und John ließ sie ausseiner Wasserflasche trinken – dieser Schluck reichte, um die Wirkung des Baumes der Logik abzuschwächen und zu neutralisieren. Im nächsten Augenblick quoll eine schwarze, giftig aussehende Masse aus Philippas Mund, die ihr über Kinn und Hals
Weitere Kostenlose Bücher