Die Kinder des Dschinn. Gefangen im Palast von Babylon
Fruchtsaft. Erst jetzt merktePhilippa, wie hungrig sie war. Aber noch hungriger war sie nach Antworten auf ihre drängenden Fragen, zum Beispiel: Wo befand sie sich und warum hatte man sie hierher gebracht?
»Hallo«, sagte Philippa. »Kenne ich Sie nicht?«
Die Frau nickte und stellte das Tablett auf einem Tischchen ab. Sie hatte ein Kleid an, das vielleicht vor vierzig Jahren teuer und modern gewesen war, dazu trug sie Spitzenhandschuhe und eine schon etwas abgewetzte mehrreihige Perlenkette. Ihr Haar wirkte staubig, die Zähne wie unter einer gelben Schicht, im Gesicht war zu viel Puder und in den Augen stand viel Enttäuschung geschrieben. »Wir sind uns schon einmal begegnet, ja«, sagte die Frau. »Beim Dschinnverso-Turnier in New York. Ich bin Miss Glovejob.«
»Ja, ich erinnere mich«, sagte Philippa. »Sie waren mit Ayesha zusammen.«
»Ich bin ihre persönliche Zofe und Reisegesellschafterin.« Miss Glovejob sprach mit ausgeprägtem amerikanischem Südstaatenakzent.
»Dann erklären Sie mir vielleicht mal, warum man mich entführt und hierher gebracht hat.« Zorn lag in Philippas Stimme. »Wo immer ›hier‹ ist.«
»Gewiss, Schätzchen, gewiss. Aber vorher lass dir eines sagen. Dass nämlich deine Entführung absolut nichts mit mir zu tun hatte. Ich bin nicht deine Feindin. Bitte denk später einmal daran. Wenn du willst, bin ich gern deine Freundin, und ich werde dir helfen, wo und wann ich kann. Solange es nicht unvereinbar ist mit den Wünschen meiner Arbeitgeberin, von der ich in den vergangenen fünfzig Jahren abhängig war.«Miss Glovejob versuchte ein Lächeln. »Hast du Durst, Kind? Möchtest du ein bisschen Apfelsaft? Meine Mutter, von der ich das Rezept habe, hat früher den besten Apfelsaft von ganz North Carolina gemacht.«
»Erst die Erklärung«, forderte Philippa.
Miss Glovejob setzte sich auf einen der gelben Sessel, die farblich gut zu ihren Zähnen passten. »Da du bist, was du bist, wirst du hoffentlich von mir keine Erklärung verlangen, wie so etwas möglich ist. Es ist eben so und das ist eine Tatsache.« Sie sah sich im Raum um und nickte. »Dieser Palast ist in jeder Einzelheit eine exakte Kopie des Osborne-Hauses, das Königin Viktoria von 1845 bis zu ihrem Tod 1902 bewohnte.«
»Wir sind in England?«
»Lass mich ausreden. Ayesha, die Engländerin ist, hat das Osborne-Haus immer geliebt, seit sie als kleines Mädchen einmal dort war. Als sie viele Jahre später der Blaue Dschinn wurde, beschloss sie, dass, wenn sie sich schon zeitweilig hier in Babylon würde aufhalten müssen – und genau da befinden wir uns nämlich –, dass dann also der Innenbereich ihres Palastes aussehen sollte wie das Osborne-Haus.«
»Aber Babylon ist im Irak. Wollen Sie sagen, dass wir hier irgendwo im Irak sind?«
»Jawohl. Und zwar am äußeren Rand einer weitläufigen, unterirdischen, geheimen Höhle mit Namen Iravotum.« Miss Glovejob unterbrach sich. »Du hast sicher von den Hängenden Gärten von Babylon gehört? Nun, und das hier ist der Hängende Palast. König Nebukadnezar hat ihn zu Ehren von Ischtar gebaut, einer von Ayeshas Vorgängerinnen als Blauer Dschinn. ›Hängender Palast‹ wurde er genannt, weil er gewissermaßenüber dem Rand eines Abgrunds hängt. Ein weiterer Grund, warum Ayesha der Ausstattung hier etwas Viktorianisches gegeben hat. Höhen machen ihr nichts aus. Trotzdem spielt es kaum eine Rolle, wie das Haus heute aussieht. Es ist vor allen Dingen die geistige Heimat des Blauen Dschinn, und sie kommt jedes Jahr im Januar hierher, um sich austrocknen zu lassen.« Miss Glovejob lächelte. »So nennen wir das jedenfalls. Weißt du, Schätzchen, die alte Dame ist bekanntlich sehr hartherzig. Muss sie auch sein, wenn sie unter euch Dschinn den Frieden wahren will. Aber dass sie gar so hart und stählern ist, das bewirkt eben der Aufenthalt hier. Ich darf dir nicht sagen, wie das vor sich geht, aber wenn sie nicht jedes Jahr einmal zum Austrocknen herkäme, wäre sie wahrscheinlich wie jede andere alte Oma. Nicht, dass ich es ihr verüble. Wenn ich wüsste, was sie weiß, wäre ich sicherlich genauso.«
»Und was hat das alles mit mir zu tun?«
»Nun, damals in New York ist mir gesagt worden, dein Oberstübchen soll ganz besonders gut entwickelt sein. Gewiss hast du doch den Zusammenhang inzwischen erraten?«
Philippa schüttelte den Kopf.
Miss Glovejob zuckte mit den Schultern. »So genau weiß ich natürlich nicht Bescheid. Aber soweit ich verstehe, will sie
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