Die Kinder von Avalon (German Edition)
Lippen.
»… Stunde … oder zwei … Weiß es nicht …«
Siggi hatte seinen Posten am Mast verlassen, um im Bauch des Schiffes Schutz zu suchen. Jetzt kroch er nach vorne zum Bug und versuchte, irgendetwas voraus zu erkennen. Nichts als Nebel. Er überlegte sich, ob sie nicht vielleicht eine Laterne anzünden sollten, um entgegenkommende Schiffe zu warnen. Falls es an Bord so etwas wie eine Laterne gab. Und falls sie nicht überhaupt die Einzigen waren, die sich auf diese See wagten. Oder vielleicht in ein Horn tuten, ein Nebelhorn …
Er legte die Hände zu einem Trichter an den Mund.
»Haaalloooo!«
Die neblige Düsternis saugte den Hall in sich ein und verschluckte ihn. Doch nein: War da nicht ein Echo, ganz fern? Oder war es ein Schrei? Ein Heulen von Wölfen, so klang es, oder ein Brüllen von Seelöwen; nein, dieser Laut war urtümlicher, wie der Laut, den einer der Riesensaurier der Urzeit von sich gegeben haben mochte – der Schrei eines Wesens, das kein Recht darauf hatte, auf dieser Erde zu leben, weder an Land noch in den Tiefen der See …
»Narr!« Die Stimme des Alten klang an sein Ohr. »Willst du uns Dylans geschuppte Hunde auf den Hals hetzen? Oder die große Schlange des Abgrunds, die in der Tiefe wohnt?«
Siggi wurde es kalt ums Herz, aber mit dem Schrecken kam auch der Trotz. Der Alte wollte ihm wohl Angst machen! Siggi starrte hinab in die dunklen Fluten.
»Da ist nichts …«
Ein Schatten zog unter ihnen vorbei, mehr zu erahnen als zu sehen. Er war so riesig, dass man ihn als Ganzes niemals erfassen könnte, so gewaltig, dass kein Geschöpf der umgrenzten Welt je imstande wäre, ihn zu begreifen: ein Wesen, so alt wie die Schöpfung, weit älter als der Mensch, älter als alles, was auf Erden lebte …
Der Schatten bog außer Sicht und verschwand in der Tiefe.
Siggi blinzelte. Hatten seine überreizten Sinne ihm einen Streich gespielt? Aber er hatte etwas gesehen! Oder etwa nicht?
Dann erblickte er etwas anderes. Nicht in den Tiefen, sondern auf der Oberfläche der aufgewühlten See. Pfeilschneil kamen sie herbeigeschossen. Wie Haie, die das Blut der Beute witterten, schnitten sie eine glitzernde Spur durch das Wasser. Doch dies waren keine Fische, nein; sie hatten schmale geschuppte Köpfe mit spitzen, geifernden Zähnen, mit glühenden Augen, in denen Wildheit und Wahnsinn brannten …
»Da … da …!«, keuchte Siggi.
Doch seine Bordgefährten achteten gar nicht auf seine wilden, hektischen Versuche, ihnen die Gefahr deutlich zu machen. Ihre Augen waren auf etwas gerichtet, das sich vor ihnen auf dem Meer abspielte.
Ein Berg erhob sich aus den Fluten.
Aber es war kein Berg. Es war in Bewegung, und doch stand es still. Es war eine einzige, riesige schuppige Windung, die sich höher und höher emporbäumte. Wasser troff von ihren Flanken. Und immer noch höher wuchs sie. Das Schiffchen, nun wahrlich nicht mehr als eine Nussschale gegenüber dieser gewaltigen Masse, an der es unweigerlich zerschellen würde, hielt direkt darauf zu. Und immer noch höher wuchs der Wurm, gewaltig und lebendig, bis sich sein riesiger Leib aus dem Wasser emporhob. Den halben Himmel verdeckte er, auf der einen Seite sich in einer steten Bewegung aus den Fluten hebend, auf der anderen sich ebenso kontinuierlich wieder in die Tiefe stürzend. Und auf das Zentrum dieser Bewegung wurde die Prydwen zugerissen, mitten hinein in den Mahlstrom, in das Loch, das sich unter dem Leib der Schlange aufgetan hatte. Höher und höher und doch nicht hoch genug.
»Festhalten!«
Dann gab es rings um sie her nichts mehr als das schäumende Wasser und die schuppige Windung vor ihnen und über ihnen und um sie herum.
Der Mast! Der Mast!
Es würde nicht reichen. Niemals, nicht in diesem Leben …
Das Splittern von Holz, das Ächzen von Planken, das Kreischen von Metall …
Dann waren sie hindurch.
Sie waren hindurch! Und lebten!
Hinter ihnen rauschte der gigantische Leib des Ungeheuers hinab in die Tiefe. Schneller, als das Auge ihm folgen konnte, stürzte der Wurm seinem urtümlichen Element entgegen, brach er sich Bahn in die Flut, der er sich soeben erst mit Gewalt entwunden hatte. Und mit der gleichen rasenden Geschwindigkeit, mit der jene gigantische Masse das Wasser verdrängte, stieg die Welle empor – eine riesige, alles überragende Woge, die das kleine Schiff packte und mit sich riss, höher und höher und tiefer und tiefer, hinein in den Abgrund der Nacht und des Vergessens …
»W-wo sind
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