Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
sie. Es war kaum mehr als ein Wimmern. »Bitte.«
Doch es wurde immer schlimmer. Sie hörte ein tiefes Grollen, das direkt unter ihr zu entstehen schien – die Bewegung der Erde selbst. Ringsum knisterte und knackte es – das Wachstum und der Tod von Blättern, Blüten und Wurzeln. Ein Kratzen und Scharren – große und kleine Tiere im Untergrund, in der Luft über ihr und draußen im Garten. Dann das Summen der Bürger von Westfallen, das immer weiter anschwoll.
Als Vater Kessian langsam und unter Schmerzen eintrat, war ihr Kopf so voll, dass sie sich kaum noch auf ihn konzentrieren konnte. Seine Stimme beruhigte sie ein wenig, und schließlich konnte sie sein besorgtes und liebevolles Gesicht betrachten, die Falten und die Runzeln. Sie brach in Tränen aus.
»Oh mein Kind, nun weine nicht«, sagte er.
»Bitte, mach, dass es aufhört«, flehte sie.
Mühsam setzte er sich neben sie und legte ihr wie ihre Mutter eine Hand auf die Stirn. Seine Reaktion verriet ihr, dass er die Hitze spürte, die von ihr ausstrahlte.
»Nun versuche mir zu erklären, wie du dich fühlst«, sagte Kessian. »Ist es so ähnlich wie gestern mit der Baumrinde?«
Mirron nickte ein wenig erleichtert. Wie immer würde der Vater ihr helfen, und dann konnte sie nachdenken und etwas lernen.
»Als ich den Baum berührt habe, hat er ganz laut mit mir gesprochen«, sagte sie. »Jetzt spricht alles zu mir.«
»Was hast du mit dem Baum getan? Versuche, dich zu erinnern.«
»Ich weiß nicht … ich habe verstanden, warum er krank war, und wollte es in Ordnung bringen. Aber das war noch nicht alles. Ich hatte das Gefühl, ein Teil von ihm zu sein.« Sie hielt inne. »Ich habe mich für kurze Zeit mit ihm verbunden und bin eins mit ihm geworden. Bis Kovan den Kontakt unterbrochen hat.«
»Hattest du auch danach noch das Gefühl, dass er mit dir gesprochen hat?«
»So laut, dass es wehgetan hat.«
»Und du konntest seine Stimme nicht ausblenden?«
»Ich erinnere mich nicht. Es hat aufgehört, als sie mich aus dem Obstgarten geholt haben.«
»Ja, das verstehe ich«, sagte Kessian. »Du warst zu weit entfernt, um ihn zu fühlen.«
»Aber warum kann ich jetzt die Leute auf dem Markt fühlen?«
Kessian riss die Augen weit auf. »Bist du sicher?«
Mirron nickte, und der Lärm nahm sofort wieder zu. Unerträglich. »Ich muss die Energiebahnen nicht sehen, um zu wissen dass sie dort sind. Ich muss auch nicht die Bahnen sehen, um zu erkennen, dass die Buche im Garten stirbt. Schneide den Stamm auf, wenn du mir nicht glaubst.«
»Oh, ich glaube dir, Mirron. Nichts von dem, was du fühlst, ist so weit hergeholt, dass ich es nicht glauben würde. Kannst du dich auch auf mich konzentrieren? Was siehst du?«
»Das will ich nicht«, sagte sie, schickte aber trotzdem unwillkürlich ihre Gedanken zu ihm hinaus.
»Weil du keinen Körper fühlen willst, der stirbt?«
Sie nickte, und dann sah sie, in welcher Verfassung sich der Vater befand. Sie erkannte die grauen und dunklen Stellen in seinen Lebenslinien und wie wenig Energie ihm noch zur Verfügung stand. Sie wollte es verdrängen. Nicht mehr lange, und sie würde erraten können, wie viel Zeit ihm noch blieb, doch das wollte sie nicht wissen. Aber sie vermochte die Gefühle, die sie durchfluteten, nicht auszusperren. Es waren das versiegende Leben selbst und seine Geräusche, die sie quälten und an ihr zerrten. Die Geräusche eines Kampfs, der nicht zu gewinnen war.
»Ich will das nicht fühlen müssen«, sagte sie und begann wieder zu weinen. »Hilf mir, damit es aufhört.«
»Mein Kind, du verbindest dich auf einer neuen Ebene mit der Welt um dich her«, erklärte Kessian sanft. »Du spürst die ganze Erde und die Elemente, aus denen wir alle bestehen, ob es ein Mensch, ein Tier oder eine Blume ist.«
»Warum denn?«, klagte sie. »Ich will das nicht. Es ist so laut.«
»Du wirst lernen, es zu steuern, wie du es bei den Visionen der Energiebahnen gelernt hast. Es ist ein Teil deiner Entwicklung, auch wenn es etwas ist, was noch niemand beschrieben hat. Versuche, es willkommen zu heißen und zu verstehen.«
»Das kann ich nicht!«, rief sie.
Die Eindrücke stürzten auf sie ein wie eine Welle am Strand. Lauter denn je forderte jedes Lebewesen ihre Aufmerksamkeit. Das -Grollen in der Erde ließ ihr die Zähne klappern, und das Kreischen des Windes in der Bucht rasselte in ihrem Kopf. Die Energie auf dem Marktplatz war jetzt ein Brüllen, und sie konnte nicht einmal mehr die einzelnen
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