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Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich

Titel: Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Barclay
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pulsierte vor Leben, auch wenn hier und da ein grauer Fleck durch ihren Kopf zog, der eine Geisteskrankheit oder eine düstere Stimmung symbolisierte. Direkt vor ihrem Fenster sprossen die Pflanzen im Garten, stießen ihre Wurzeln in den Boden, wuchsen und gediehen. Die majestätische alte Buche in der hinteren Ecke jedoch lag im Sterben. Eine Krankheit hatte ihren Stamm ergriffen und tötete sie von innen her, während an den Zweigen nur ein paar eingerollte Blätter zu sehen waren. Es entsprach genau dem Baum gestern im Obstgarten …
    Mirron schüttelte mit pochendem Herzen heftig den Kopf. Ihr war heiß, und die Angst war wieder da. Sie versuchte, sich auf die tanzenden Spiegelbilder unter der Decke zu konzentrieren, konnte die Gedanken aber nicht ganz verdrängen. Jedes Mal, wenn sie nur eine Spur abgelenkt war, spürte oder empfand sie das Leben vor ihrem Fenster. Sie kannte die Windstärke und Windrichtung und den genauen Stand der Flut im Hafen.
    »Immer mit der Ruhe«, sagte sie sich. »Das wird schon wieder aufhören.«
    Sie konzentrierte sich auf ihren eigenen Atem und ihren Puls und setzte die Entspannungsübungen ein, die Hesther ihnen in der Anfangszeit vor ihrem Erwachen gezeigt hatte. Dabei kam allerdings nichts weiter heraus, als dass ihr Körper lauter denn je zu ihr sprach. Sie spürte das Blut in allen Venen und Arterien, die Bewegungen ihres Darms und die Luft in den Lungen. Außerdem war da ein Knistern, bei dem sie aber nicht sicher war, ob sie es mit den Ohren wahrnahm oder nicht. Es klang wie das Wachstum der Wurzeln in der Erde.
    Es hörte nicht auf. Zwar konnte sie ihren Herzschlag beruhigen, aber die Entspannung vertiefte nur noch die Eindrücke, die alle um ihre Aufmerksamkeit buhlten. Sie konnte es nicht ausblenden. Beinahe geriet sie in Panik; sie packte das Bettlaken und hielt sich mit geballten Fäusten daran fest. Der Baum litt, die Büsche neben ihm waren gesund und strebten der Sonne droben und dem Wasser unter ihnen entgegen. Auf dem Markt, nicht weit von der Villa entfernt, herrschte ein Gewimmel von Leben, das sie völlig zu überwältigen drohte.
    »Mutter!«, rief sie mit einer Stimme, die beinahe brach. »Mutter!« Es klang fast wie ein Wehklagen, auch wenn sie es nicht beabsichtigt hatte.
    Sie wusste nicht, ob es überhaupt jemand hören konnte, aber sie wollte auch nicht aufstehen und selbst nachsehen, denn sie war nicht sicher, ob ihre Beine sie überhaupt tragen konnten, auch wenn sie absolut sicher war, dass ihr körperlich nichts fehlte.
    »Ma …«
    Draußen auf dem Marmor tappten Sandalen, das Geräusch wurde lauter. Mirron holte tief Luft und atmete seufzend aus. Dabei hörte sie auch das Tosen der Luft in ihren Lungen. Die Tür ging auf, und Gwythen Terol trat mit sehr besorgter Miene ein.
    »Was ist denn, Liebes? Alles in Ordnung?« Sie durchquerte das Zimmer und trat auf den Läufer vor dem Bett, dann setzte sie sich auf die Bettkante und legte Mirron eine Hand auf die Stirn. »Dir ist ja ganz heiß, junge Dame, und dein Gesicht ist gerötet.« Sie runzelte die Stirn. »Du wirst doch nicht krank?«
    Mirron schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht ausblenden, Mutter«, sagte sie. »Es ist in meinem Kopf und hört nicht mehr auf.«
    »Was meinst du damit?« Gwythens Stirnrunzeln vertiefte sich noch.
    Mirron wusste nicht, wie sie es erklären sollte. »Die Welt spricht zu mir«, sagte sie, immer noch mit den Worten ringend. »Ich nehme es überall um mich herum wahr und kann es nicht verhindern.«
    Gwythen stand auf. »Warte, Mirron, ich will Vater Kessian holen. Er muss es hören.«
    »Lass mich nicht allein«, sagte Mirron. Ihr schossen schon wieder die Tränen in die Augen.
    »Sch-sch. Es dauert doch nur einen Augenblick. Er ist nicht weit weg.«
    Mirron sah ihrer Mutter hinterher, und sobald die Tür geschlossen war, forderte die Welt lautstark ihre Aufmerksamkeit. Sie konnte nicht anders, sie musste nach den Wurzeln all dieser Eindrücke tasten. Was sie wahrnahm, empfing sie nicht mithilfe ihrer Ohren, aber die Eindrücke kamen ihr vor wie Geräusche. Das war für sie die einzige Art, es zu beschreiben.
    Mit jedem Augenblick wurde es lauter. Insekten huschten vorbei, was sie als hohes Summen im Kopf wahrnahm. Ihre Energie brannte hell und starb schon, während sie gerade erst geboren waren, so kurz war ihre Spanne auf der Erde. Am anderen Ende des Spektrums standen die schwerfälligen Regungen tief wurzelnder Pflanzen und Bäume.
    »Lasst mich in Ruhe«, sagte

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