Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
starrte ihn an. Gorian war so groß wie er und wäre in ein paar Jahren sogar stärker als er. Aber so weit war es noch nicht.
»Glaubst du denn, sie ist dort hinaufgegangen, weil sie mit dir allein sein wollte?« Gorian stand jetzt nur noch einen Schritt vor ihm. »Sie braucht Freiraum und Frieden, um sich selbst und ihre Arbeit zu verstehen. Das brauchen wir alle. Wir verstehen und achten das. Warum achtest du das nicht? Du hast sie gestört.«
»Sie hat etwas erlebt, das noch keiner von euch erlebt hat«, erwiderte Kovan. »Vater Kessian sagte, es sei ein Glück, dass ich dabei war.«
»Glück?«, höhnte Gorian. »Wir haben Glück, wenn du nicht in unserer Nähe herumschwirrst wie Fliegen um die Kuhfladen. Was konntest du schon tun, um ihr zu helfen? Du gehörst nicht zu den Aufgestiegenen. Lass sie doch einfach in Ruhe. Sie ist auf den Hügel gestiegen, um vor dir Ruhe zu haben, kapierst du das nicht?«
Kovan zuckte mit keiner Wimper. Er wusste, dass dies Gorian verunsicherte. Es war die Taktik, die man auch im Duell anwandte. »Sie hätte mich bitten können zu gehen. Das hat sie nicht getan. Vielleicht wollte sie vielmehr dir ausweichen.«
Das hatte gesessen, es verschlug Gorian einen Moment die Sprache. »Du darfst sie nicht stören. Keiner von uns darf das«, wiederholte er schließlich.
»Was glaubst du eigentlich, wer die Aufgestiegenen beschützt, wenn mein Vater nicht mehr da ist?«, höhnte Kovan. »Eure Zukunft liegt in meinen Händen.«
Gorian lachte. »Nein, ganz sicher nicht. Bei Gott, der auf uns herabschaut, du hast keine Ahnung, was? Wenn Schatzkanzler Jhered seinen Bericht abliefert, werden wir nach Estorr zur Advokatin gerufen. Wo wirst du sein, wenn wir im Palast leben und unsere Ausbildung unter dem Schutz der Advokatin selbst fortsetzen? Wahrscheinlich liegst du dann schon tot auf einem Schlachtfeld in Tsard, weil du in den Krieg ziehen musstest, um dich auf das Amt des Marschallverteidigers vorzubereiten.«
Kovan fand keine Worte, und Gorian fuhr unerbittlich fort.
»Vergiss sie«, sagte er. »Du kannst sie nie haben. Sie ist für andere da.« Sein Lächeln war voller Bosheit. »Für mich, falls ich mich dazu entscheide.«
»Das wird sie selbst entscheiden«, sagte Kovan. »Deine Überheblichkeit wird dein Untergang sein. Deine Tricks sind ihr egal, weil sie das alles selbst kann. Ich habe ihr so viel mehr zu bieten.«
Gorian schüttelte den Kopf. »Wie ich schon sagte, so wird es nicht laufen. Weißt du was, Vasselis? Eines Tages werde ich fähig sein, dich mit einer Berührung oder mithilfe einer Laune der Elemente zu töten, die meiner Kontrolle unterliegen. Deine Schwertkunst wird dir dann auch nicht mehr helfen.«
»Drohst du mir etwa, Gorian?«
»Wie klingt das denn?« Jetzt war es an Gorian zu spotten. »Am Ende wird dein Einfluss an den Grenzen von Caraduk aufhören, während meiner bis ins Herz der Konkordanz reichen wird.« Er hielt inne und sprach leise weiter. »Lass sie los, bevor es dir wehtut. In dieser Stadt leben Menschen, die mir wichtig sind. Werde ein guter Marschallverteidiger, wie es dir vorbestimmt ist, und kümmere dich um diese Menschen. Dann können wir vielleicht Freunde sein.«
Kovan war über das, was er da hörte, ehrlich überrascht. Er betrachtete Gorian einige Augenblicke und fragte sich, ob dies auch wieder nur Spott war, aber es kam ihm nicht so vor. »Ganz so einfach ist das Leben nicht. Du wirst lernen müssen, dass ein Vasselis sein Schicksal immer selbst in die Hand nimmt. Niemand legt es für ihn fest.«
»Dann werden wir vielleicht doch keine Freunde«, sagte Gorian.
Kovan zuckte mit den Achseln und ging an ihm vorbei. »Damit kann ich leben.«
Mirron erwachte in einer veränderten Welt. Es dauerte eine Weile, bis sie es genau benennen konnte. Jedenfalls fühlte es sich anders an als am Abend zuvor, als sie zu Bett gegangen war. Ihre Furcht war einer tiefen Ruhe gewichen, und sie hatte ungestört geschlafen, bis die Sonne durch die offenen Läden gefallen war und sie geweckt hatte.
Jetzt lag sie mit offenen Augen im Bett und starrte die Decke an, auf der das vom Teich vor ihrem Schlafzimmerfenster reflektierte Licht spielte. Sie hörte die Brunnen plätschern und spürte schon die aufkommende Hitze des Tages. Am Himmel spürte sie den Hauch des Windes in den Federn der Vögel, die über dem reifenden Korn dahinschossen oder sich am Hafen versammelten.
Westfallen war geschäftig, der Markt war gut besucht und blühte. Die Stadt
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