Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
aber sie achtete darauf, dass die Klingen immer scharf blieben.
Die Wanderung durch den blutigen Schlamm führte ihr vor Augen, wie tragisch die Niederlage gewesen war. Viele Männer und Frauen hatten Wunden im Rücken und waren offenbar auf der Flucht niedergemacht worden. In der Nähe der Frontlinie lagen die Leichen am dichtesten, dahinter breiteten sie sich in einem weiten Bogen aus. Sie konnte erkennen, wo die Leute in Richtung der Furten gerannt waren, um die Sicherheit eines anderen Heeres zu erreichen, das daraufhin ebenfalls die Flucht ergriffen hatte. Sie folgte den nun weiter verstreut liegenden Toten bis zur Asche der Lager. Die meisten, die hierher geeilt waren, hatten einen Sammelpunkt gesucht oder sich in Sicherheit bringen wollen. Die Tsardonier hatten sie einfach überrannt.
Sie wollte sich beeilen, doch ihr war klar, dass sie damit nur Aufmerksamkeit erregt hätte. So ging sie absichtlich langsam und murmelte für alle, an denen sie vorbeikam, ein Gebet. Die Gewalt, die hier zugeschlagen hatte, versetzte sie in Erstaunen. Während ihrer Dienstzeit in der Kavallerie der Legion hatte sie schon mehr als eine Niederlage erlebt, namentlich in den ersten Kriegsjahren in Gosland, bevor sie zu den Bärenkrallen gekommen war. So etwas wie dies hier hatte sie allerdings noch nie gesehen. Damals war der Rückzug immer eine Möglichkeit gewesen, die der Sieger dem Besiegten einräumte. Dies hier war ein Gemetzel gewesen, dem jeder zum Opfer gefallen war, der den tsardonischen Klingen und Pfeilen nicht hatte entkommen können.
Es war schon Mittag, als sie die Ruinen des konkordantischen Lagers erreichte. Seit sich die Umrisse aus dem Dunst geschält hatten, hatte sie kaum den Blick von ihnen wenden können. Immer noch stieg Rauch von den Feuern auf, deren Überreste tagelang glühen würden. Einige Teile des zentralen Palisadenzauns waren stehen geblieben und ragten geschwärzt und trotzig auf. Innerhalb aber war alles zerstört. Mit knirschenden Schritten lief sie durch die Asche des Haupttors und blieb stehen. Nicht ein Stückchen Zeltplane war noch da. Alles, was die Tsardonier nicht mitgenommen hatten, hatten sie verbrannt. Auf der weiten Fläche lagen die Knochen und Schädel derjenigen, die niemals die Umarmung Gottes spüren würden. Sie fragte sich, wer sie waren.
Rechts hinter einigen noch aufrecht stehenden Pfählen hörte sie ein Pferd wiehern. Vorsichtig pirschte sie sich an und lehnte sich an das Holz, um den Kopf um die Ecke zu schieben und nachzusehen. Es war das erste Quäntchen Glück, seit sie auf dem Schlachtfeld erwacht war. Ein tsardonischer Reiter ohne Rüstung, nach der Kleidung zu urteilen ein Bote, erleichterte sich am Palisadenzaun. Er war teilweise von seinem Pferd verdeckt, das desinteressiert Wache hielt und den Kopf zu ihr herumdrehte.
Kell nahm einen Dolch in die linke Hand. Es fühlte sich seltsam und ungewohnt an, aber es musste reichen, bis die rechte Seite verheilt war. Sie eilte durch den Schlamm und betete, dass ihre Schritte sie nicht verraten würden. Die Waffe und ihre Rüstung verbarg sie unter dem Mantel. Beinahe hätte sie es geschafft, aber dann war die Blase des Mannes leer, und er drehte sich um und bemerkte sie, als sie noch sechs Schritte entfernt war. Er sagte etwas und winkte ungeduldig in Richtung der Plünderer. Dabei zeigte er keine Angst, denn er sah nur den Dreck der Ebene in ihrem Gesicht und die gebeugte Haltung der Armen. Kell lächelte ihn an und ging vorsichtig weiter auf ihn zu, die Mantelsäume mit der verletzten rechten Hand haltend. Er runzelte die Stirn und sagte noch etwas, dieses Mal etwas gröber, und deutete über ihren Kopf hinter sie. Eine Hand wanderte zu seinem Schwertgriff.
Kell war klar, dass es wehtun würde, aber eine bessere Gelegenheit würde sie nicht bekommen. Sie ließ ihren Mantel fallen und sprang ihn an. Er riss die Augen weit auf, als er die Rüstung erkannte. Ihr Dolch fuhr nach oben, und er war nicht schnell genug, um ihm auszuweichen. Die Klinge drang unter den Rippen ein, sie stieß hart nach oben und legte ihm den rechten Arm um den Hals, um ihn an sich zu ziehen. Beide keuchten – sie über die Schmerzen, die durch ihre Brust rasten, und er über den Schock, als die Klinge in seinen Körper eindrang.
Er wollte sie abwehren, fand aber nicht mehr die Kraft dazu. Die Dolchspitze durchbohrte sein Herz. Er zuckte zusammen und erschlaffte. Sie ließ ihn zu Boden gleiten. Das Blut war auf ihre Hand und ihr rechtes Bein
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