Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
stach eine gebrochene Rippe in die Lunge.
Am sechsten Tag ritt sie im leichten Trab zwischen sanften Hügeln entlang, hinter denen die Taritebene lag. Ein weiterer Tag, an dem die Sonne erbarmungslos herniederbrannte. Sie hatte oft angehalten, um das Pferd zu tränken und im Schatten Zuflucht zu suchen, wo es nur möglich war. Als sie an einem fast ausgetrockneten Bach entlang durch ein kleines Tal ritt, glaubte sie, eine Bewegung zu erkennen. Gleich darauf bohrte sich direkt vor ihr ein Pfeil in den Boden. Ihr Pferd scheute, und sie musste hart in die Zügel greifen, um es zu halten.
»Noch ein Schritt, und der nächste Pfeil tötet dich.«
Kell lachte laut. Es war ein estoreanischer Akzent.
»Ich bin es«, rief sie. »Rittmeisterin Kell.«
Dann wurde ihr bewusst, dass sie, um den Hals vor der brennenden Sonne zu schützen, die Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Sie warf sie zurück.
»Gott umarme mich, wir dachten, Ihr wärt auf dem Schlachtfeld gefallen oder als Sklavin verschleppt worden«, antwortete der Soldat. »Wir kommen Euch entgegen.«
Kell hätte nicht damit gerechnet, eine solche Freude zu empfinden, als sie die freundliche Stimme hörte, auch wenn sie nicht wusste, wem sie gehörte. Links von ihr kamen Reiter einen Abhang herunter. Sie erkannte die Abzeichen ihrer Legion, und ihr Lächeln wurde sogar noch etwas breiter.
»Die Krallen!«, rief sie begeistert. »Mein Herz ist froh, euch zu sehen. Endlich erweist uns Gott doch noch seine Gnade. Wie viele sind wir?«
Die beiden berittenen Bogenschützen erreichten sie. Als Kell die grimmigen Gesichter sah, verging ihr jegliche Freude.
»Nur wenige«, erklärte einer. »Folgt uns, Rittmeisterin Kell. Meister Nunan kann Euch erzählen, was geschehen ist.«
»Dann ist Pavel Nunan am Leben?«
»Gerade noch«, sagte der andere. »Kommt mit.«
Zehn Tage waren seit der Niederlage vergangen, und die Willenskraft dieser Überlebenden war gebrochen. Sie sahen keinen Grund, mit ihr zu plaudern, und erkannten nicht einmal vorbehaltlos ihre Autorität an. Es war, als wäre sie eine Fremde, der sie nicht trauten.
Wäre die Lage anders gewesen, sie hätte gesagt, dass der Lagerplatz schön war. Auf einer kleinen, mit Gras bewachsenen Ebene stand ein auf drei Seiten von Hügeln geschütztes Wäldchen. Der Bach, an dem sie entlanggeritten war, entsprang plätschernd mitten im Lager zwischen den Felsen.
Doch hier sah sie sich mit Elend, Verzweiflung und Leiden konfrontiert. Die Anzahl der Soldaten und Kavalleristen konnte sie nicht genau bestimmen. Vielleicht zweihundert, vielleicht ein paar mehr. Die meisten lagen am Boden, viele davon völlig reglos. Einige andere bewegten sich zwischen ihnen, darunter auch ein Feldarzt, wofür sie sehr dankbar war. Zwanzig standen oder ritten und hielten Wache, zu ihnen zählten auch die beiden, die sie abgefangen hatten. Obwohl ein Wind über das Plateau wehte, stank es nach Erbrochenen und Exkrementen.
Sie stieg ab und gab einer jungen Frau die Zügel, die ihre Ankunft nicht einmal mit einem Lächeln zur Kenntnis nahm. Auf einen militärischen Gruß verzichtete sie vollkommen.
»Wo ist Nunan?«, fragte sie.
»An der Quelle unter der Buche«, sagte ein Bogenschütze der Krallen. »Wenn Ihr uns jetzt entschuldigt, wir müssen wieder auf Streife. Die Tsardonier suchen immer noch die Hügel ab, wir müssen wachsam sein.«
»Natürlich«, sagte sie. »Wegtreten. Und vielen Dank.«
Nachdem die beiden salutiert hatten, ging sie rasch durch das improvisierte Lager. Die meisten, an denen sie vorbeikam, waren offenbar nicht verletzt, sondern ruhten sich nur aus. Sie runzelte die Stirn. Es gab hier keine Struktur, keine Organisation. Hoffentlich konnte Nunan es ihr erklären. Er saß mit dem Rücken an den Baum gelehnt, eine Schulter war dick verbunden. Sein Brustharnisch lag neben ihm, er schwitzte in der Hitze, und die Schweißtropfen liefen ihm über das vor Schmerzen verzerrte, bleiche Gesicht.
»Pavel Nunan, ich hätte mir ja denken können, dass du der Gefangennahme entgehst und dich an einem schönen Ort niederlässt«, sagte sie lächelnd, während sie sich vor ihn hockte. »Aber die Truppe ist ein wenig in Unordnung.«
Er schaute auf und erwiderte ihr Grinsen. »Das Putzkommando wusste ja nicht, dass du kommst, Dina«, sagte er. »Sobald ich den Arm weit genug heben kann, um den Befehl zu geben, lasse ich sie auspeitschen.«
»Wie schlimm ist es?«
»Bei mir oder bei ihnen?«
»Beginnen wir mit dir.«
Nunan
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