Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
kratzt sich an der Nase. »Ich habe einen Pfeil abbekommen, als das Heer zusammengebrochen ist, und wurde vom Feld getragen. Damit zähle ich wohl zu den Glücklichen. Die Hunde waren überall. Viele Bisswunden, viele Infektionen. Die Pfeilspitze sitzt nicht mehr in meiner Schulter, und die Wunde ist sauber, aber es hat mich hart erwischt. Ich bin nicht sicher, ob ich bei den nächsten Spielen mit dem Schwert einen guten Eindruck mache.«
»Hauptsache, du überlebst«, sagte Kell.
»So lange wie alle anderen«, erwiderte Nunan.
»Dann lass mal hören.« Sie deutete in die Runde.
»Meine Erinnerungen sind etwas verschwommen, aber soweit ich weiß, sind die meisten, die es hierher geschafft haben, am Lager vorbeigerannt, als klar war, dass wir umzingelt werden würden, bevor wir es erreicht hätten. An den Furten herrschte große Verwirrung, und einige haben lange genug ausgehalten, damit wir an ihnen vorbei direkt nach Norden fliehen konnten.
Frage mich nicht, warum wir nicht verfolgt wurden. Das kann ich nicht sagen. Aber als wir am nächsten Tag in Sicherheit waren und uns versteckt hatten, konnten wir uns ein wenig organisieren. Was du hier siehst, sind diejenigen, die zu schwach sind, um weiterzumarschieren, und die anderen, die sich weigern, sie im Stich zu lassen. Außerdem bin ich hier, irgendwie in der Schwebe und für den Haufen verantwortlich.«
»Wie viele sind entkommen?« Jetzt begriff Kell wenigstens, warum sich das Lager in diesem Zustand befand.
»Als die Tsardonier aufbrachen, hatten wir fast zweitausend eingesammelt. Zweifellos sind Tausende weiterer Kämpfer direkt nach Atreska oder Gosland geflohen, aber davon konnte ich nicht mit Gewissheit ausgehen. Deshalb habe ich so viele Berittene und leichte Infanteristen wie möglich mit Botschaften nach Haroq und über den Ruinenpass nach Goscapita geschickt. Wenn der Pass es zulässt, werden sie vor den Tsardoniern dort ankommen.«
Nunan hustete und zuckte sofort schmerzhaft zusammen. Er stöhnte und legte eine Hand auf die Schulter.
»Geht es dir nicht gut?«
»Mir ist es noch nie besser gegangen«, knurrte er.
»Hast du etwas von Gesteris gehört?«
»Leider nicht«, antwortete Nunan. »Als wir ihn das letzte Mal sahen, führte er gerade seine Extraordinarii hinter uns, um uns Raum für die Flucht zu verschaffen. Er hat versucht, die Truppen an den Furten dort zu halten, aber damit hatte er keinen Erfolg. Lass uns beten, dass er noch rechtzeitig herausgekommen ist. Am Abend sahen wir dann das Lager in Flammen stehen. Die Frage ist, ob er zu diesem Zeitpunkt dort drinnen war.«
»Gott beschützt die Großen, und er ist einer von ihnen«, sagte Kell. Einen Augenblick lang war sie überrascht, dass sie sich um ihren General so wenig Sorgen machte. Dann fiel ihr der Grund ein. Gott lächelte jeden Tag auf diesen Mann herab. Fast jeden Tag, mit Ausnahme eines einzigen vielleicht. »Sind auch Boten zu Del Aglios und Jorganesh unterwegs?«
»In gewisser Weise. Jorganesh wird allerdings erst in einiger Zeit davon erfahren. Ich habe einen Zug Kavallerie eingesetzt, der aus einer versteckten Position die Tsardonier beobachtet. Sie reiten nach Süden, sobald die Luft rein ist – vielleicht sind sie sogar schon fort. Was Del Aglios angeht, so sind ein paar Leute an den Halorfällen.
Angeblich soll es dort einen Pass geben. Aber denen vertraue ich nicht, Kell. Sie wollen nichts weiter als sich verstecken. Teilweise kann ich es sogar nachfühlen. Irgendjemand muss unbedingt im Norden Bescheid geben.«
Kell schüttelte den Kopf. »Wenn du mich anstiften willst, diese Aufgabe zu übernehmen, mein Freund, dann kannst du es ruhig sagen.«
»Wirst du es tun?« Nunan runzelte die Stirn. »Du bist aber auch verletzt, oder?«
»Es ist nichts, was mich vom Reiten abhalten würde«, erwiderte sie. »Ich lasse mich vorsichtshalber vom Arzt untersuchen, ehe ich aufbreche.«
Nunan lächelte wieder. »Danke.«
»Was willst du jetzt tun?«
Nunan zuckte mit den Achseln und bereute es sofort wieder. »Wir werden uns so gut wie möglich erholen und weiter nach Überlebenden suchen. Entweder wir machen den Feinden hier in der Gegend Schwierigkeiten, oder wir kehren zurück und helfen bei der Verteidigung.«
»Hm. Du solltest dir genau überlegen, was du tust. Wie viele Leute hast du hier? Zweihundert?«
»So in etwa.«
»Dann seid ihr leichte Beute für ein tsardonisches Suchkommando. Auch wenn ihr so wenige seid, schickt Späher voraus.«
»Ich werde daran
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