Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
muss einfach fragen. Ich bin sehr schockiert, auch wenn ich alles getan habe, was Ihr in Euren Botschaften verlangt habt. Was ist in Westfallen geschehen? Und was hat Marschall Vasselis damit zu tun?«
Koroyan nickte. »Welcher Leser dient in Westfallen?«
»Elsa Gueran, meine Kanzlerin.«
»Hast du jemals gehört, dass sie irgendein Sterbenswörtchen geäußert hat?«
»Nein«, erwiderte Lotheris. Sie runzelte die Stirn.
»Wenn du mit dem Ersten Sprecher von Cirandon sprichst, wirst du zweifellos feststellen, dass er ähnliche Schwierigkeiten hat und sich sogar behindert fühlt.«
Lotheris nickte. »Das ist wahr, soweit ich mich erinnere, aber …«
»Dann bleibe Gott treu und höre, was ich dir zu sagen habe. Es ist eine Lektion darüber, dass wir nie in unserer Wachsamkeit nachlassen dürfen. In dem schönsten aller Länder geschieht etwas sehr Böses, und es ist so nahe, dass du es beinahe berühren kannst.« Als sie das Haus der Masken erreichten, war Lotheris’ aufgedunsenes Gesicht dunkel und vor Wut verzerrt.
Es geschah ihnen nacheinander, und die Tage der Autorität des Aufstiegs waren lang und freudlos.
Es passte überhaupt nicht zu der prächtig auf Gottes Erde herabscheinenden Sonne. Das Getreide wuchs auf den Feldern, die Früchte reiften in den Bäumen, und die jungen Tiere gewannen Kraft und Gewicht. Sogar die Fische schwammen in größeren Schwärmen denn je umher und schienen nur darauf zu warten, in die ausgeworfenen Netze zu geraten.
In jeder Hinsicht war es ein Solastro, den Gott gesegnet hatte. Westfallen briet in der Hitze, die von der Seebrise gemildert wurde. Es herrschte schönes Wetter, das sich, wie Ardol Kessian sicher wusste, noch eine Weile halten würde. Der Handel florierte und war gewinnbringend, die Feldfrüchte waren schon lange vor der zu erwartenden ausgezeichneten Ernte zu guten Preisen verkauft worden.
Am Haus der Masken fanden viele Feste statt, und die Leute beteten inbrünstig, lächelten und lachten.
Doch insgeheim, abseits der neugierigen Augen und gespitzten Ohren von Besuchern, Händlern und Fremden, beteten die Einwohner auch für die Aufgestiegenen. Die ganze Stadt wusste von ihrem Kampf, und hinter verschlossenen Türen flehte die ganze Gemeinschaft zu Gott, ihnen seine Gnade zu gewähren. Der Strom der Besucher, die mit Genesungswünschen zur Villa kamen, riss nicht ab. Freundlich wurden die Geschenke und Worte angenommen, niemand wurde abgewiesen. Manchmal hielt sie nur noch das Mitgefühl der anderen aufrecht.
Hesther bekam nicht viel davon mit, und sie hatte auch kaum Zeit zu schlafen, zu essen und an etwas anderes zu denken als an die Aufgestiegenen. Wenn sie wirklich einmal ruhte, bedrängten sie die Bilder der Kinder, und oft stieß sie ebenso laute, erschreckte Schreie aus wie ihre Schutzbefohlenen, die im Innern ihrer Körper in irgendwelchen Schlachten gefangen waren.
Vom dritten Tag des Solasauf an hatte es sie alle rasch nacheinander befallen. Hesther konnte die Erinnerungen nicht abschütteln. Die drei Jungen hatten an Mirrons Bett gesessen und ihr zugesehen, wie sie sich wand, wie sie klagte und stöhnte. Alle hatten ihr die Hände aufgelegt, um sie zu trösten, aber ihren Worten hatte die Überzeugungskraft gefehlt, und Hesther hatte die Furcht der Vorahnung in ihren Gesichtern deutlich erkannt. Was einem von ihnen während des Aufstiegs zustieß, traf immer auch alle anderen.
So traurig war es. Diese jugendliche männliche Erregung und die wilden Fantasien, sie könnten bald die Formen von Bäumen, Pferden oder allem anderen annehmen, wurden so schnell zerstört. Sie wichen der schrecklichen Gewissheit der Dinge, die kommen mussten.
Es überraschte niemanden, dass es Ossacer als Nächsten traf. Er war schon immer sehr empfindsam gewesen. Da er von so schwacher Konstitution war, mussten sie sogar um sein Leben fürchten. Arducius und Gorian stützten sich am Tag, den sie zusammen verbrachten, gegenseitig, so gut sie konnten, bis Arducius unvermittelt in einem Säulengang im Garten zusammenbrach.
Gorian war die letzte Zeit, bevor er in Ohnmacht fiel, nicht etwa ängstlich, sondern wütend. Er war sicher, dass dieser Weg zu größerer Macht und besserem Verständnis führte, und fühlte sich hilflos, weil sich der Vorgang seiner Kontrolle entzog. Kessian hatte ausführlich mit ihm gesprochen, worauf sich der Junge schweigend verschlossen hatte. Er machte sich Sorgen, weil er zu fürchten begann, seine Fähigkeiten hätten ihn
Weitere Kostenlose Bücher