Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
verlassen.
Als ihn aber drei Tage nach Arducius die Schmerzen seiner Eindrücke zu übermannen drohten, lächelte er und schrie erleichtert auf.
»Aber welche Erleichterung verspürst du jetzt noch, mein Neffe?«, flüsterte Hesther, während sie ihm das feuchte Haar aus der zerfurchten Stirn strich.
Die Aufgestiegenen befanden sich inzwischen alle in einem Zimmer in der Villa. Hier konnten ihre gelegentlichen Schreie Westfallens Einwohner nicht mehr beunruhigen oder das Misstrauen von Fremden erwecken. In den sechzehn Tagen, seit sie alle in diesen Zustand geraten waren und mit sich selbst rangen, unzugänglich für die Hilfe von Menschen und Gott, hatte sich ihre Verfassung nicht mehr geändert.
In den ruhigeren Augenblicken, wenn sie sich nicht am ganzen Körper verspannten und ihre Gesichter nicht beängstigend verzerrt waren, konnten die Helfer sie reinigen und pflegen. Sie bekamen Wasser und verflüssigte Nahrung, vor allem Gemüse und Brot, das sie schluckten, wenn ihnen jemand den Hals streichelte. Ihre Gliedmaßen wurden bewegt, um die verkrampften Muskeln zu lockern und ihrem Schwund entgegenzuwirken. Genna Kessian hatte zusammen mit den Ärzten genaue Regeln aufgestellt, und wer immer die Kinder gerade bewachte, kannte sie und befolgte sie genau.
»Hesther?«
Hesther drehte sich zu Shela Hasi um. Die arme Shela saß neben Arducius auf einem Stuhl. Sie hatte sich härter ins Zeug gelegt als jeder andere und sich Vorwürfe wegen des Zustandes der Kinder gemacht. Tröstende Worte konnten sie kaum aus ihren Schuldgefühlen reißen.
»Entschuldige, ich habe gerade mit Gorian gesprochen. Ich frage mich, ob es ihnen hilft, wenn wir mit ihnen reden.«
»Wir müssen eben alles versuchen«, sagte Shela.
Es war Spätnachmittag, und die Aufgestiegenen genossen eine Ruhepause. Sie waren gefüttert und umgezogen worden und hatten ihre Bewegungstherapie bekommen. Aber auch wenn sie nicht stöhnten oder Unsinn plapperten, schreckten sie immer wieder hoch, bewegten sich nervös und boten allen, die bei ihnen wachten, einen beunruhigenden Anblick. Genna Kessian und Andreas Koll hatten sich schon für die Nacht zurückgezogen. Bald sollten Meera Naravny und Jen Shalke kommen.
Es war fast unmöglich, Meera oder Gwythen von ihren Kindern fernzuhalten, sie fanden einfach keinen Schlaf. Auch die Mütter von Ossacer und Arducius waren sehr beunruhigt. Im Grunde waren sie ganz gewöhnliche Menschen, die ihre Kinder wie alle anderen, die teilnahmen, der Autorität des Aufstiegs anvertraut hatten. Die Identität der Väter wurde vor ihnen geheim gehalten, und so würde es auch immer bleiben. Dieses Wissen war zu gefährlich für sie.
Hesther schaute auf Gorian hinab. Sein Kopf lag auf der Seite, seine Lippen bewegten sich stumm, ein Speichelfaden rann auf sein Kopfkissen. Sie fragte sich, wo er war, ob er eher körperliche Schmerzen litt oder vor allem geistig verwirrt war. Unfähig, die Gefühle zu verstehen und zu beherrschen, die ihn durchfluteten.
Die Tür des duftenden Zimmers öffnete sich, und Kessian trat ein. Er bewegte sich nur unter Schmerzen und schrecklich langsam. Sein Gesicht war verzerrt und weiß, seine Augen lagen tief in den Höhlen und waren dunkel, und die Falten schienen nie mehr von seiner Stirn weichen zu wollen. Die Sorge um die Aufgestiegenen brachte ihn ebenso sicher dem Tod näher wie seine Lebensjahre. Willem begleitete ihn, auch er ein alter Mann, der jetzt viel älter wirkte, als er nach Jahren zählte. Dennoch fand er in sich immer noch genügend Kraft, damit Kessian sich auf ihn stützen konnte, wenn Genna ruhte.
Hesthers Herz flog ihm entgegen, und sie sprang auf und empfing ihn an der Tür.
»Oh Ardol, du solltest dich doch ausruhen. Komm, stütz dich auf mich. Willem, hol dir einen Stuhl. Du siehst so erschöpft aus.«
»Ausruhen?« Ardols Augen waren feucht, und seine Miene verriet seine Verzweiflung. »Wie könnte ich das tun? Wie könnte das irgendeiner von uns?«
Er stützte sich auf Hesther und ließ sich von ihr ins Zimmer führen. Die freundlich geschmückten Wände mit den Bildern von Tieren, Blumen und Fischen rochen noch nach frischer Farbe. Seine Stöcke klapperten auf dem Boden. Hesther wollte ihn zu einem Stuhl geleiten, doch er sträubte sich.
»Lass sie mich alle ansehen. Lass mich feststellen, ob es irgendein Zeichen gibt.«
Hesther begleitete ihn, als er an den Betten entlangging. Sie spürte, wie hinfällig sein Körper war und hörte seinen rasselnden Atem. Wie
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