Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
diejenigen, die er jetzt kommen sah, besaßen kaum mehr als die Kleider auf dem Leib. Wie sollte er für all diese Menschen sorgen? Überall waren die alten Schreine wieder aufgestellt oder neu errichtet worden, da die einheimischen Atreskaner Trost bei ihren alten Göttern und Geistern suchten. Wohin er auch schaute, die Menschen streiften die Lebensart der Konkordanz ab.
»Da seht Ihr, was Eure Politik uns eingebracht hat«, sagte er zum estoreanischen Konsul Safinn, der neben ihm stand.
Der Konsul trug seine formelle Toga mit der grünen Schärpe der Konkordanz und hatte vor den Augen der Bürger von Haroq eine stolze Haltung eingenommen. Hinter der Fassade spürte Yuran dennoch die Angst des Mannes, dem es nicht anders erging als allen Würdenträgern der Konkordanz und den paar Einnehmern, die in der Stadt festsaßen. So oder so, niemand durfte hinaus, solange der Konflikt nicht beigelegt war.
»Dazu fällt Euch wohl nichts ein, was ?« Yuran schüttelte kichernd den Kopf. Ihm war heiß unter der polierten Rüstung und dem Helm mit dem Federbusch, aber er würde beides erst ablegen, wenn die Schlacht vorüber war. »Ihr könnt nicht verleugnen, was jeder Einwohner meiner Stadt sieht und was jeder Flüchtling fürchtet, der da unten durch die Tore läuft. Zwar kommt jetzt erst eine Handvoll Reiter, aber unter der großen Staubwolke am Horizont marschieren Zehntausende Kämpfer der tsardonischen Infanterie und Kavallerie. Vergesst nicht, dass Eure Herrscher in Estorr noch nicht einmal wissen, dass die Invasion begonnen hat. Sie werden es erst erfahren, wenn meine Brieftauben sie erreichen.
Einstweilen sitzen sie dort, trinken Wein und genießen ihr süßes Leben, während wir auf diesen Mauern sterben müssen. Dabei fühlt Ihr Euch nicht sehr wohl, was? Wo ist nun das Vertrauen in Eure Macht?«
»Gesteris’ Legionen werden sich neu formieren und aufstellen. Sie wurden verstreut, nicht abgeschlachtet, und die Tsardonier sind dumm, wenn sie glauben, sie hätten die Konkordanz mit einem einzigen Sieg bezwungen. Haltet Eure Mauern, Marschall, und aus allen Richtungen wird Hilfe kommen.«
Yuran starrte den Konsul an, der seinerseits unverwandt die sich nähernde Staubwolke im Auge behielt.
»Ihr verschließt die Augen vor der Realität«, sagte er. »Habt Ihr nicht den Legionären zugehört, die blutend durch die Tore gestolpert kamen? Aufgerieben wurden sie gewiss, und viele von ihnen gerieten in Gefangenschaft. Wie viele sind noch da draußen, die den Willen und die Geschicklichkeit haben, sich erneut einem Feind zum Kampf zu stellen, der sie vernichtend geschlagen hat!
Ihr habt noch nie die Gefahren der Schlacht erlebt und sicher nicht die Bitterkeit einer völligen Niederlage geschmeckt. Ich habe Jahre gebraucht, um so aufrecht stehen zu können wie jetzt. Ihr seid ein Narr, Safinn. Als Narr geboren, und als Narr werdet Ihr sterben. Seht zu und lernt.«
Als die Sonne den Zenit erreichte und die Hitze beinahe unerträglich wurde, trat Yuran in den Schatten des Torhauses. Männer, Frauen, Kinder und erschöpfte Soldaten strömten in hellen Scharen durch die Tore. Seine Stadtmiliz und die Erste Ala von Haroq, die Steinkrieger, wiesen die Neuankömmlinge ein.
Unterdessen war die tsardonische Kavallerie näher gekommen und höchstens noch eine Stunde entfernt. Von seinen eigenen Reitern begleitet, kamen sie mit der Parlamentärsflagge, wie er es erwartet hatte. Er ordnete an, dass die Flüchtlinge zum Osttor ausweichen sollten, und vernahm das beruhigende, dumpfe Klappern, als die großen Eisentore unter seinen Füßen geschlossen wurden und das Fallgatter an seine Position fuhr.
Dann befahl er, auf dem Torhaus die Parlamentärsflagge zu hissen, und trat auf den Balkon hinaus, der als Schutz gegen die Hitze mit einem Baldachin versehen war. Wie unpassend das wirkte. Der Balkon war wundervoll gearbeitet, seine Schnitzereien zeigten die Siegesfeiern nach der Aufnahme in die Konkordanz. Er war als Bühne angelegt worden, auf der Würdenträger und Verbündete aus dem ganzen Reich gebührend empfangen werden konnten. Jetzt stand er dort und erwartete die Vorhut einer Invasionsarmee.
Am Torhaus und auf den Wällen standen Bogenschützen bereit.
Auf den Türmen, die alle dreihundert Schritte die Mauer unterbrachen, warteten Bailisten, Onager und Katapulte mit Doppelfedern auf die Befehle, das Feuer zu eröffnen. Niemand würde ohne seinen ausdrücklichen Befehl schießen. Er kannte die Tsardonier, wahrscheinlich
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