Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Menge in einen Ring von Schwertkämpfern hinein. Jesson wurde fast übel, als er es sah. Die Zähler kamen näher. Die Frau neben ihm war die Zehnte, schreiend wurde sie ihrem Mann entrissen, der darum bat, an ihrer Stelle genommen zu werden. Er bekam einen Schwertknauf in den Nacken und sank bewusstlos zu Boden.
Jesson war nicht erleichtert. Sein Kopf schwirrte von den Rufen der Menschen, die ihren Angehörigen entrissen wurden und um Gnade flehten, während die Angreifer sie von allen Seiten bedrängten und ihr böses Werk verrichteten. Neunundzwanzig Bürger wurden auf diese Weise zusammengetrieben. Ihr Schicksal lag nun in Gottes Hand, als sie verdeckt von Pferden, Leder und Stahl im Kreis der Feinde standen.
»Zwar hassen wir die Konkordanz, aber das bedeutet nicht, dass wir nichts von ihr lernen können.« Rensaark stieß ein kaltes Lachen aus, das Jesson bis ins Herz fuhr.
Ihm war klar, was die Angreifer beabsichtigten. Ihre Feinde dezimieren. Jesson wollte die Augen schließen, konnte es aber nicht. Sechs Tsardonier hoben eine Frau hoch. Sie wand sich und schrie, und die anderen, die hilflos zusehen mussten, stimmten in ihre Schreie ein.
Sie pressten sie mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch, kräftige Hände hielten ihre Gliedmaßen, die Hüften und den Rücken fest. Ihr Hals und ihr Kopf ragten über die Kante des Altars hinaus. Rensaark zog seine Klinge, nahm kurz Maß und holte aus. Mit einem Schlag trennte er den Kopf der Frau ab, ihre Schreie erstarben, ihr Blut strömte auf den Boden. Der Kopf rollte ein Stück und blieb im Gras liegen, die Augen waren geöffnet und starrten ungläubig.
Wieder drängten die Pferde die Einwohner zusammen. Achtundzwanzig gefangene Bürger flehten um ihr Leben und wollten ausbrechen, doch es waren zu viele Tsardonier, und alle waren stark und bewaffnet. Mehr als hundert waren es wohl, die das Dorf angegriffen hatten.
Jesson ließ den Kopf hängen und starrte seine Sandalen an. Er zitterte am ganzen Körper und zuckte bei jedem Schrei zusammen. Die schrecklichen Laute der Menschen, die wussten, dass sie sterben mussten. Sie flehten Gott an, riefen ihre Angehörigen, baten um Milde, verfluchten die Tsardonier und die Konkordanz, stießen letzte Worte der Liebe hervor. Er ballte die Fäuste, als die Klingen durch die Luft zischten und klatschend die Hälse der Opfer trafen, worauf der Kopf mit einem dumpfen Aufprall auf den trockenen Boden fiel.
Er zählte jeden Einzelnen und betete darum, dass sie Frieden in der Umarmung Gottes finden und in ein Leben zurückkehren mochten, in dem es keine Furcht gab, sondern gesegneten Frieden und Licht. Quälend langsam ging das Zählen. Er wiegte sich im Stehen hin und her und atmete kurz und abgerissen. Nur die Worte, die er an Gott richtete, während der Schauder durch seinen ganzen Körper lief, hielten ihn aufrecht.
Als es endlich zu Ende ging, konnte er kaum noch klar denken und nahm nur noch am Rande wahr, was die Tsardonier sagten.
»Ihr habt zwei Warnungen bekommen«, sagte Rensaark. »Eine dritte wird es nicht geben.«
Beinahe geräuschlos verschwanden die Eindringlinge in der Dunkelheit hinter den Bränden und ließen die Leichen zurück, die den Platz des Gebets besudelten. Den Einwohnern von Gullford blieb nun die grausame Aufgabe, die Ermordeten einzusammeln und ihnen die letzte Ehre zu erweisen.
Jesson sank auf die Knie. Alle Hoffnung hatte ihn verlassen.
9
844. Zyklus Gottes, 43. Tag des Solasauf
11. Jahr des wahren Aufstiegs
K essian hatte Bryn Marr seit dessen heftiger Reaktion in der Schmiede vor zwei Tagen unauffällig im Auge behalten und sich schließlich entschieden, ihn aufzusuchen, um ihn zur Vernunft zu bringen. Nachdem die Aufgestiegenen und die Autoritäten gegangen waren, hatte Bryn die Schmiede geschlossen und seitdem nicht mehr geöffnet. Vielmehr hatte er die Zeit allein und betrunken brütend entweder in seinem Haus oder, was erheblich beunruhigender war, in einer Schenke am Forum verbracht. Bisher hatte er nichts Unüberlegtes gesagt, aber früher oder später würde ihm etwas herausrutschen. Es waren einfach zu viele Händler in der Stadt.
In Kessians Begleitung befand sich eine Frau, die in den kommenden Jahren eine entscheidende Rolle spielen würde, wenn die Aufgestiegenen sich ungehindert entwickeln sollten. Elsa Gueran war eine Leserin des Ordens der Allwissenheit. Sie war dessen einzige Vertreterin in Westfallen, und die Autorität war über die Maßen dankbar dafür,
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