Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
den Hauseingängen tauchten bereits die ersten neugierigen Gesichter auf. Er verscheuchte sie mit einer Handbewegung und klopfte noch einmal an.
»Bryn, nun mach schon! Wir wollen doch nicht die Miliz rufen, um einzubrechen und zu sehen, ob du noch lebst.«
»Bist du sicher, dass er überhaupt dort drinnen ist?«, fragte Elsa.
»Ja, falls er nicht in der letzten Nacht einen Tunnel gegraben hat«, erwiderte Kessian.
»Oder sein eigenes Grab.«
»Das ist nicht witzig.«
»Sollte es auch nicht sein.«
Abermals klopfte Kessian mit seinem Stock an. »Bryn! Das ist die letzte Aufforderung.« Er wartete, schüttelte nach einer Weile den Kopf. »Ich glaube nicht …«
Das Knirschen von Riegeln, die zurückgeschoben wurden, unterbrach ihn. Die Tür öffnete sich einen Spalt.
»Kann man denn nicht einfach mal ein wenig für sich sein, wenn man es will?«, grollte Bryn.
Sie hörten ihn ins Haus zurückkehren. Kessian stieß die Tür auf und trat ins Zwielicht hinein. Alle Läden waren vorgelegt, die Luft roch muffig und säuerlich. Mit einem Achselzucken ging er weiter hinein und folgte dem kurzen Flur, der zu Bryns Wohnzimmer und Esszimmer führte. Überall auf dem Boden, den Beistelltischen und Sofas lagen und standen leere Weinkrüge, Becher und Teller herum.
Hinter dem Esszimmer führte ein weiterer kurzer Gang auf der rechten Seite zur Küche. Links konnte man über eine Treppe das Schlafzimmer erreichen. Die Schmiede und der Hof lagen hinter der Küche, aber so weit mussten sie nicht gehen. Bryn saß mit dem Rücken zum kalten Schmiedeofen an seiner Werkbank und starrte ins Leere. Er hatte sich längere Zeit weder gewaschen noch rasiert, und das fettige Haar klebte ihm auf dem Kopf. Seine Augen waren vom Trinken und vom Schlafmangel gerötet, die zitternden Hände hatte er um einen Becher auf dem Tisch gelegt. In einem Halbkreis standen und lagen einige Krüge und Becher vor ihm. Bryn hatte stets gern Wein getrunken, aber inzwischen sah es aus, als hätte er den größten Teil seiner Vorräte verbraucht.
»Darf ich mich setzen?«, fragte Kessian, während er sich schon einen Stuhl heranzog.
Bryn machte eine kleine zustimmende Geste. Kessian ließ sich schwer fallen und schnaufte vernehmlich, nachdem er seinen Stock an die Tischkante gelehnt hatte. Elsa stellte sich neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Aus der Nähe stank Bryn nach Schweiß, Erbrochenem und schalem Wein.
»Wir wollten nur mit dir reden«, begann Elsa, »und uns vergewissern, dass es dir gut geht.«
»Tja, jetzt habt ihr mich gesehen. Dann könnt ihr ja wieder gehen«, antwortete Bryn. »Keine Sorge, ich werde euer kostbares Geheimnis nicht verraten.«
Er würdigte sie keines Blickes, sondern starrte nur den Weinkelch an, den er zwischen seinen schmutzigen Fingern hin und her drehte.
»Es ist auch dein Geheimnis, Bryn. Es ist unser aller Geheimnis. Das gilt für jeden in Westfallen«, sagte Kessian.
»Hör mal, wir wissen ja, dass du Angst hast«, ergänzte Elsa.
»Angst?« Jetzt hob er sein gebräuntes, faltiges Gesicht und starrte sie mit geröteten Augen an. »Nein, ich habe keine Angst. Ich empfinde viel zu viel Bedauern und Verzweiflung, um mich zu fürchten. Es ist doch sinnlos, sich jetzt noch zu fürchten, nachdem wir diese ungezügelte Bösartigkeit erschaffen haben.«
Trauer durchflutete Kessian wie eine eiskalte Woge. Er schüttelte den Kopf und empfand Mitleid für seinen verstörten Freund.
»Nein, Bryn. Kann es denn böse sein, ein neues Leben in eine Welt zu bringen, das enger mit allen Schöpfungen Gottes verbunden ist als jedes andere zuvor?«
»Das kann nicht richtig sein«, flüsterte Bryn heiser. »Was haben wir nur getan?«
»Wir haben ein neues Verständnis in die Welt gebracht«, erklärte Kessian. »Wir haben Menschen auf die nächste Ebene erhoben. Sie näher an Gott herangebracht, damit sie umso besser die Werke des Allwissenden verrichten können. Das ist ein natürlicher Fortschritt.«
Bryn schnaubte nur. »Natürlich. Das Mädchen hat Flammen in den Händen gehalten, die sich ihrem Willen gefügt haben.«
»Man könnte sagen, dass alle Begabungen der Linien, ob angeboren oder erworben, etwas Unnatürliches sind. Schließlich warst du in deiner Jugend ein Feuerläufer. Bist du unnatürlich?«
»Gott schenkt uns solche Gaben«, erwiderte Bryn eisig, »und Gott nimmt sie uns auch wieder. Sie entsprechen der natürlichen Ordnung der Dinge. Aber das hier? Wir haben diese Kinder gezüchtet, das
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