Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
dass ausgerechnet sie ihrem einflussreichen Vorgänger auf diesem Posten gefolgt war.
Kessian hatte sie am westlichen Rand der Bucht in ihrem einfachen einstöckigen Haus neben dem Haus der Masken abgeholt. An diesem Tag setzte ihm die Hitze sehr zu. Der Solastro wurde seinem Ruf vollauf gerecht, kein Lüftchen wehte. Ohne den lindernden Seewind war es heiß und stickig. Die Geschäfte in der Stadt gingen nur langsam vonstatten, die meisten Leute saßen im Schatten und redeten über ihre Abschlüsse oder arbeiteten mit nacktem Oberkörper im Freien. Auf den Hängen oberhalb der Stadt suchten die Tiere den Schutz der Bäume und Büsche, wo sie nur konnten, und die Bauern liefen langsamer als sonst durch die grell beleuchtete Landschaft.
Elsa bot ihm eine Schulter, auf die Kessian sich stützen konnte, während der Stock sein restliches Gewicht aufnahm. Er hatte seine lockerste Tunika angelegt und einen großen Strohhut aufgesetzt, um seinen kahlen Kopf und den Hals zu schützen, war aber trotzdem nach kurzer Zeit völlig verschwitzt.
»Heute Morgen fühle ich mich sehr alt«, sagte er, als sie über das Forum gingen und die vielen Grüße der Menschen erwiderten, die ihnen begegneten.
»Das liegt daran, dass du alt bist«, erwiderte Elsa lächelnd. »Es ist Gottes Art, dir zu zeigen, dass deine Zeit beinahe abgelaufen ist.«
Elsa war siebenundvierzig und eine Schönheit. Wie viele, die sich in den Dienst des Ordens stellten, hatte auch sie sich für das Zölibat entschieden, weil sie glaubte, sie sei durch Gott ohnehin schon die Mutter aller Einwohner von Westfallen. Ihr schwarzes Haar fiel in Locken bis auf ihren Rücken herab und war hier und dort mit geflochtenen Bändern geschmückt. Frauen, die halb so alt waren, beneideten sie um ihre durchtrainierte Figur, und ihr freundliches, offenes Gesicht war beinahe so vollkommen geformt wie das einer Statue.
Außerdem war sie ungeheuer respektlos, was angesichts ihrer schwierigen Position ein Segen war und zugleich enorme Kraft erforderte.
»Manch einer würde dich auf den Scheiterhaufen stellen, wenn du so eine unschickliche Wahrheit aussprichst«, meinte Kessian kichernd.
»Hier gehen Dinge vor, für die mich viele verbrennen würden, wenn sie es nur wüssten, Ardol. Dir zu sagen, dass du dem Tode nahe bist, ist noch die geringste meiner Sorgen, glaube mir.«
Sie wurde wieder ernst. Kessian tätschelte die Schulter, auf die er sich stützte.
»Aber dich zu verbrennen, werden sie wohl nicht schaffen, was?«, meinte er.
Elsa zuckte mit den Achseln. »Es fällt mir so schwer, die Realität anzuerkennen. Ich habe Mirron und jetzt auch Arducius gesehen, bin aber immer noch nicht sicher, ob ich es glauben kann.«
»Das dürfte wohl auch der Kern dessen sein, was Bryn umtreibt«, erwiderte Kessian.
»Zweifellos. Für diejenigen, die kein dauerhaftes Talent besitzen, ist es schwer zu fassen. Ganz zu schweigen von denen wie ich, die überhaupt keines haben.« Sie verstummte und ordnete ihre Gedanken.
Auf einem Stand in der Nähe bemerkte Kessian ein besonders schönes Tuch aus Tundarra. Dunkelgrün und mit roten und goldenen eingewirkten Fäden. Genna würde sicher gern ein paar Ellen davon haben.
»Ein Sonderpreis für einen armen alten Mann?« Kessian deutete auf den Stoff.
»Damit versuchst du es nun schon seit einem Jahrzehnt, Ardol«, erwiderte der Händler, ein großer und dünner Mann, der ebenfalls schon recht betagt war.
»Jedes Mal, wenn ich es ausspreche, kommt es der Wahrheit etwas näher.«
»Das gilt auch für die Drohungen meiner Lieferanten, die sich immer fragen, wie ein Stoff, der so weit gereist ist, für so wenig Geld verkauft wird. Für dich wie für alle anderen ist der Preis ein Denarius pro Elle. Einen Nachlass gibt es erst, wenn du zehn Ellen auf einmal kaufst.«
Kessian blies die Wangen auf und bemerkte Elsas leicht beunruhigten Blick. »Darüber muss ich in Ruhe nachdenken. Vielleicht komme ich später noch einmal vorbei, wenn du großzügiger bist.«
»Wird es dir die Dame deines Herzens denn jemals verzeihen, wenn sie erfährt, dass ich alles verkauft habe, ehe du dich durchgerungen hast, sie zu beschenken?«
»Werde ich jemals dir verzeihen, wenn sie erfährt, dass ich mich überhaupt erkundigt habe?« Kessian blinzelte, drehte sich um und legte Elsa wieder die Hand auf die Schulter. Die beiden entfernten sich langsam. »Entschuldige, Elsa. Du wolltest gerade etwas sagen.«
»Ich glaube an den wahren Weg des Ordens. Deshalb
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