Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Begrüßung war herzlich ausgefallen, und eine Weile hatte er sich damit begnügt, über alltägliche Dinge zu plaudern. Trotz ihrer Bemühungen hatte er sich jedoch nicht entspannt. Sie konnte es ihm nicht vorwerfen. Er sah ernsthafte Probleme vor sich, und wie es schien, war nicht alles, was er vortrug, reine Einbildung oder maßlos übertrieben.
Herine war Jhereds Rat gefolgt und hatte sich beim Wein zurückgehalten, um einen klaren Kopf zu bewahren. Sie hatte eine nicht zu prächtige Umgebung gewählt, ein privates Audienzzimmer im Verwaltungstrakt der Basilika, und eine formelle Toga angelegt. So saßen sie vor einem mächtigen offenen Feuer einander gegenüber, da der schwere Steinboden der Basilika die Einrichtung eines Hypokaustums nicht erlaubte. Sie hatte sich gegen die Kühle in dem Raum mit der hohen Decke einen Schal über die Schultern gelegt. Yuran trug eine Toga und eine Schärpe im Gelb und Grün von Atreska und Estorea und hatte sich in Pelze gehüllt.
»Ich will den Handel weiter fördern«, fuhr Herine fort. »Eure Keramikarbeiten sind die schönsten in der ganzen Konkordanz, wie Euer Geschenk anlässlich dieses Besuchs so vortrefflich zeigt. Sicherlich finden wir einen Weg, den Vertrieb im Nordwesten und Südwesten zu erleichtern. Tundarra und Bahkir haben ja keine Ahnung, was auf ihren Tafeln fehlt.«
»Leider verlieren wir regelmäßig unsere Töpfer und Künstler durch tsardonische Überfälle«, entgegnete Yuran unverblümt.
Herine spürte seine Stimmung. Er hatte auf diese Gelegenheit gewartet, und sie wollte ihm seinen Auftritt gewähren.
»Mir sind Eure Sorgen durchaus bewusst, Thomal.«
»Und doch, meine Advokatin, redet Ihr über den Handel mit Ländern, die Mühe haben, das aufzubringen, was wir verlangen müssen, weil uns und ihnen zum Wohle Eures Staatsschatzes so hohe Steuern auferlegt werden. Zu welchem Zweck denn eigentlich? Die Tsardonier treiben sich ungehindert an meinen Grenzen herum, und meine Bürger rufen nach mehr Sicherheit, die ihnen zu geben ich mir einfach nicht leisten kann. Ich bin gezwungen zu fragen, was die Legionen denn eigentlich in Tsard ausrichten, da so viele Räuber aus Tsard, die anscheinend nicht zur Verteidigung gegen die Konkordanz gebraucht werden, unseren Truppen entgehen können.«
»Ihr werdet Euch sicher an das Abkommen erinnern, das Ihr mit mir unterzeichnet habt, um Atreska in die Konkordanz aufzunehmen.«
»Das werde ich mein Lebtag nicht vergessen, meine Advokatin.« Er sprach mit starkem Akzent, seine Worte waren manchmal kaum zu verstehen. »So wenig wie meinen anscheinend fehlgeleiteten Glauben an unsere Sicherheit und Unversehrtheit als Mitglied der Konkordanz.«
Herine entschied sich, den Seitenhieb zu überhören.
»Dann werdet Ihr Euch auch erinnern, dass die Abgaben zweimal im Jahr neu bestimmt werden, und dass Atreska für seine Verteidigung selbst verantwortlich ist.«
»Wir können es uns nicht leisten, die Verteidiger auszubilden, ganz zu schweigen davon, sie zu bewaffnen und zu besolden.«
»Ach, nun hört doch auf«, sagte Herine nicht unfreundlich. Sie gestattete sich ein Lächeln. »Es wird doch gewiss nicht Eure Kräfte übersteigen, eine Miliz aus Bürgern aufzustellen, die ihren eigenen Besitz schützen.«
Yuran keuchte überrascht, was Herine in Erstaunen versetzte. »Ich bin nicht der Marschallverteidiger von Phaskar oder Caraduk. Die Gesetzeshüter und vertrauenswürdigen Bürger, die Waffen tragen, reichen keineswegs aus. Ich habe es mit ausgebildeten berittenen Bogenschützen aus Tsard zu tun. Mit Steppenkavalerie und erfahrenen Fußsoldaten. Ich muss Feuer mit Feuer bekämpfen, aber mir fehlen die Mittel dazu. Ihr müsst die Bürden verringern, die Atreska auferlegt sind, sowohl was Männer angeht, als auch im Hinblick auf die Steuern. Nur vorübergehend, bis die Truppen ausgebildet und entsandt sind.«
»Marschallverteidiger Yuran, ich will Euch versichern, dass es überhaupt nichts gibt, was ich tun muss. Ich werde mir wie immer Eure Gesuche anhören, will mich aber zugleich vergewissern, dass Ihr alles in Euren Kräften Stehende getan habt, um Eure Probleme selbst zu lösen, bevor Ihr Euch an mich gewandt habt. Denn das ist schließlich der Preis der lokalen Autonomie, nicht wahr?«
Yuran errötete. »Diese Herablassung habe ich nicht verdient, meine Advokatin. Ich verdiene es, höflich, mitfühlend und unvoreingenommen behandelt zu werden. Während meiner Amtszeit als Marschallverteidiger hatte ich es
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