Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
die Berichte über die Defizite vorlegen. Yuran will nicht, dass ich an seinen Gesprächen mit dir teilnehme. Ich fürchte, wir werden uns nicht von Angesicht zu Angesicht begegnen. Aber ich stehe dir zur Verfügung, wenn du mich brauchst.«
Herine nickte und fasste sich wieder. Die Ruhe kehrte in ihren Körper zurück, und auch ihre Gedanken verliefen wieder in geordneten Bahnen. Es gab für jedes Problem eine Lösung. Sie hatte die letzten vierzig Jahre damit verbracht, Lösungen zu finden.
»Die Konkordanz ist ein machtvolles Gebilde«, sagte sie schließlich. »Es ist unvorstellbar, dass wir dies nicht im Keime ersticken können. Ob wir mehr Legionen, mehr Leser, neue Marschälle, in Estorr neu ernannte Präfekten oder Konsuln brauchen, wir werden eine Lösung finden.«
»Davon bin ich fest überzeugt«, stimmte Jhered zu.
»Ich werde zuhören und mich beraten. Wann brichst du wieder auf?«
»In etwa zehn Tagen.«
»Ausgezeichnet.« Herine schenkte sich nach, und jetzt war auch Jhered bereit für ein zweites Glas Wein. »Du wirst für den Botendienst der Advokatur einige Nachrichten und Pläne mitnehmen. Einige davon sollst du persönlich überbringen.«
»Was immer du verlangst.«
»Danke, Paul.«
Jhered stand auf, um sich zu verabschieden. »Du solltest darüber schlafen. Ich will dich nicht in Panik versetzen, aber die Lage da draußen ist gefährlicher, als die meisten im Palast vermuten würden.«
»Ich weiß.« Sie lächelte, ohne sich zu entspannen. »Nun ja, jetzt weiß ich es.«
»Was führt eigentlich Arvan Vasselis hierher?«, fragte er, als er schon an der Tür des Esszimmers war.
Herine zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Er will über einige Dinge mit mir sprechen, aber vor allem ist es wohl ein Höflichkeitsbesuch, denke ich. Außerdem bringt er Felice aus der Fassung, was mir immer Freude macht.«
»Gute Nacht, meine Advokatin«, sagte Jhered und neigte den Kopf.
»Gute Nacht, Paul.«
Herine küsste ihn auf die Wange und schloss hinter ihm die Tür. Seine Schritte verhallten wie die letzten Echos eines angenehmen Traums und ließen sie wach und allein zurück.
14
847. Zyklus Gottes, 14. Tag des Dusasauf
14. Jahr des wahren Aufstiegs
V ier Tage waren seit ihrem beunruhigenden Abendessen mit Paul Jhered vergangen, und Herine hatte keineswegs die Hände in den Schoß gelegt. Beim Schatzamt hatte sie einen Bericht über Ungereimtheiten und Verminderungen der Steuereinnahmen in den Staaten, die an Tsard grenzten, sowie Zahlen über das Handelsvolumen mit Sirrane und Kark angefordert. Sie hatte angeordnet, große Mengen von Mineralien und Metallen zu horten und eine Einschätzung zu erstellen, welche Mängel herrschen würden, falls Kark als Handelspartner ausfiele. Holz konnten sie aus anderen Ländern als Sirrane beziehen, doch es hätte eine schlechtere Qualität.
Sie hatte Boten in alle Länder der Konkordanz entsandt und weitere Auskünfte verlangt. In manchen Fällen ging es nur um die geschätzten Steuereinnahmen im Verhältnis zur Veranschlagung und um Erklärungen für die Ausfälle. In anderen Fällen hatte sie zusätzliche Informationen über Bürger angefordert, die in der Kavallerie und als Fußtruppen, für den Nachschub und den Transport eingesetzt werden konnten. Von den Legionen in Tsard und den Marschallverteidigern von Gosland und Gestern erwartete sie jedoch umfassende Berichte über feindliche Vorstöße, die Sicherheit der Grenzen, den Zustand der Heere und die Moral der Bürger. Sie hatte durchblicken lassen, dass sie alle Bitten um Verstärkung erwägen würde, jedoch zugleich erklärt, dass der Staatsschatz nicht unerschöpflich wäre und die Einwohnerschaft nicht beliebig viele Pferde und Männer oder Frauen als Reiter liefern könnte, um Schlachten zu schlagen.
Jetzt hatte Herine wieder etwas Zeit. Der Dusas hatte gerade erst begonnen, und im Nordosten herrschte schon grimmiger Frost. Die Feldzüge kamen zum Stillstand, bis die Sonne des Genastro wieder die Erde wärmte. Die Tsardonier hatten sich in Festungen und Burgen zurückgezogen, um ihr Kriegsgerät auszubessern und sich neu auszurüsten. Der Dusas würde jedoch nur neunzig Tage dauern, und dann würde der Feldzug wieder beginnen. Sie konnte sich keine Verzögerungen erlauben, und zögerliche Reaktionen auf ihre Anfragen würde sie nicht hinnehmen. Diesen Punkt hatte sie mit großem Nachdruck betont.
Vor ihr saß nun Thomal Yuran, der Marschallverteidiger von Atreska. Die
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