Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Schatten zu durchdringen. Man konnte sie umgehen. Da es ihm an Selbstvertrauen mangelte, um seine Theorie an einem Tier zu erproben oder auch nur mit Vater Kessian oder Genna darüber zu reden, hatte er es zunächst mit den Energien versucht, die er über seine verbliebenen Sinne aufnahm. Dabei hatte er herausgefunden, dass er im Kopf eine energetische Landkarte seiner unmittelbaren Umgebung erzeugen konnte.
Feste Gegenstände wie Mauern, Schränke, Säulen und Betten erschienen ihm wie dunkelgraue Umrisse auf einer hellen Leinwand. Menschen dagegen waren bewegliche rote, grüne und gelbe Flecken, in die sich Dunkelblau mischte, und wenn sie verletzt waren, auch graue und schwarze Schatten. Ihre Umrisse waren verschwommen, aber deutlich genug, damit er einzelne Personen unterscheiden konnte. So hatte er Arducius mit dem Schneeball getroffen. In offenem Gelände und besonders nach einem Schneefall blieb der Hintergrund verschwommen, und so hoben sich die Menschen ab wie Feuer in der Nacht.
Leider war es anstrengend, weil keine der verfügbaren Energien direkt anwendbar war. So musste er sich sehr bemühen, die Karte im Kopf zu halten. Noch konnte er es nicht für längere Zeit tun, aber er hoffte, es wäre lange genug, um Arducius zu helfen.
Er stand auf und streckte die Hände aus, die sich dunkelrot und mit hellgelben Rändern deutlich abzeichneten. Seine Beine strahlten auf ähnliche Weise, aber weniger stark, und sein übriger Körper war unter dem Nachthemd etwas gedämpft. Unter den Füßen lag der Teppich als bleicher Schatten auf dem kühlen blauen Stein, und vor sich konnte er Arducius’ Kopf und Arme über den Bettlaken sehen.
Er setzte sich zu ihm.
»Bist du bereit?«, flüsterte er.
»Wie hast du das gemacht? Ich habe dich beobachtet. Du hast dich bewegt, als könntest du sehen.«
»Das kann ich auch«, sagte Ossacer mit wachsender Erregung. »In gewisser Weise. Ich erkläre dir alles. Aber jetzt muss ich noch etwas anderes probieren.«
»Ich bin dein Versuchskaninchen, was?«
Die beiden Jungen lachten leise. Der Gedanke, heimlich etwas zu tun, ohne Shela zu wecken, beflügelte sie.
»Was soll ich tun?«, fragte Arducius.
»Nichts. Bleib einfach liegen. Es sollte nicht wehtun, aber wenn doch, dann sag es mir. Ich höre auf, wann immer du willst.«
»Es wird schon nichts passieren.«
Ossacer ließ die energetische Karte in seinem Kopf verblassen und war zufrieden, dass er seine Sinne kontrollieren konnte. Dann legte er die Hände auf Arducius’ linken Arm.
»Das ist kalt«, zischte Arducius.
»Entschuldige.«
Er zog sich zurück und ließ die Energien seines Körpers durch sein Bewusstsein, die Arme hinunter und zu Arducius wandern. Sofort sah er den Umriss des anderen Jungen vor seinem inneren Auge. Er benutzte ein wenig Energie von Arducius, um seine eigene zu verstärken. Dann folgte er den hellen Impulsen, die von Arterien und Venen ausgingen, und erkundete den Blutstrom in Arducius’ Körper. Die Knochen erschienen als dunkelgrüne Umrisse, das Herz war ein rotes Lodern, die Lungen in einem etwas dunkleren Rot gefärbt, und der Magen war ein ruhiges Gelb.
Die starken und hellen Energiebahnen in Arducius’ Körper waren von Flocken freier Energie umgeben, die er als schwache Spuren oder blinkende kleine Lichter wahrnehmen konnte. Er war sicher, dass er sie dazu bringen konnte, die gestörten Bahnen zwischen den gebrochenen Knochen in Arducius’ Handgelenken neu zu verbinden. So bewegte er die Hand zum verletzten linken Handgelenk und strich mit den Fingerspitzen ganz leicht über Arducius’ Haut.
»Nicht bewegen«, sagte er, als sein Freund leicht zusammenzuckte. »Es tut mir leid, wenn es kribbelt.«
»Es ist warm«, sagte Arducius.
»Das ist gut.«
Arducius’ Handgelenk war völlig zertrümmert. Ossacer hätte vor Schreck fast die Finger vom Verband und der Schiene zurückgezogen. Er hatte sich daran gewöhnt, Prellungen zu sehen, die er manchmal als wabernde graue Wolken wahrnahm. Das hier aber war viel schlimmer. Wo die Brüche kompliziert waren und keine Lebensenergie mehr existierte, sah er nur noch einen undurchdringlichen grauen Fleck, teilweise sogar eine tiefe Schwärze. Schienen konnten hier nicht helfen.
»Was ist los?«, fragte Arducius.
»Die Brüche sehen schlimm aus«, antwortete er.
»Das hatte ich noch gar nicht bemerkt«, erwiderte Arducius trocken.
»So meinte ich das nicht. Sie reichen so tief. Deine Knochen sind zwar eingerichtet, aber es fließt
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