Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Stirn. »Ist das hier Wissenschaft? Oder ein Segen Gottes?«
»Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Gott zeigt uns, wohin wir unsere Füße setzen sollen, und öffnet uns die Augen. Unsere Ärzte entwickeln ihre Wissenschaft dank der Erkenntnisse über den menschlichen Körper. Sie wären aber nirgendwo angelangt, wenn Gottes Hand sie nicht geführt hätte. Genauso ist es bei uns. Der Weg wird uns gezeigt, und dann liegt es bei uns, ihn zu verstehen.«
Gorian schwieg einen Augenblick. Er schluckte.
»Wie geht es Ossacer und Arducius?«
»Das hätte doch eigentlich deine erste Frage sein müssen, nicht wahr?«
Keine Antwort. Gorians Unterlippe zitterte, die Tränen schossen ihm in die Augen.
»Zum Glück für dich geht es beiden gut«, antwortete Kessian nach einer Weile. »Ossacer hat einen bemerkenswerten Fortschritt erzielt.«
»Was denn?« Eifer und Begierde blitzten in Gorians Augen.
»Ah ja, hättest du gewartet und ihn ermutigt, dann hättest du es zweifellos längst herausgefunden. Gorian, warum hast du das getan?«
Kessians Enttäuschung traf Gorian wie ein körperlicher Schlag, jedes Wort schmerzte stärker als das vorangegangene. Die Tränen rollten ihm über die Wangen. Kessian machte keine Anstalten, ihn zu trösten, auch wenn er es gern getan hätte.
»Warum hat er es mir nicht gesagt?«
»Wir reden nicht über Ossacer, sondern über dich«, erwiderte Kessian scharf. »Das Recht war auf seiner Seite, nicht auf deiner. Nach dem, was du gestern Abend zu deiner Mutter gesagt hast, scheinst du es nicht zu verstehen.«
»Ich verstehe es«, klagte er. »Ich wollte ihm nicht wehtun.«
»Gorian, sieh mich an«, befahl Kessian. Gorian gehorchte. Vater Kessian widersetzte man sich nicht. »Weiche mir nicht aus. Du hast Ossacers Handgelenk gepackt, deine Fähigkeit als Aufgestiegener eingesetzt und es durch Kälte verbrannt. Er wird die Narben behalten, bis er ins Grab gelegt wird. Jetzt erkenne ich das Bedauern in dir, aber direkt nach dem Vorfall war davon nichts zu sehen, und auch vorher hast du nicht darüber nachgedacht.«
»Ich wollte ihm nicht wehtun. Ich wollte auch nicht, dass Arducius verletzt wird.« Wie ein Häuflein Elend saß er vor seinem Schreibtisch auf dem Stuhl. Er hielt sich eine Hand vor die Augen, während die Tränen seine Wangen hinabrollten. Beinahe hätte Kessian ihn herzhaft umarmt. Er sah so verloren aus.
Kessian sprach etwas sanfter weiter. »Aber wie können wir das glauben? Du hast es dennoch getan, und als deine Mutter dich danach gefragt hat, sagtest du, die Starken nähmen sich eben, was sie wollten, und im Grunde müsste man den anderen beiden und nicht dir die Schuld an den Ereignissen geben. Gorian? Hilf uns doch zu verstehen, damit wir dir helfen können. Du darfst nicht so die Beherrschung verlieren. Nicht mit den Kräften, die du hast.«
Gorian wusste nicht, was er darauf sagen sollte, so viel war klar. Kessian war nicht überrascht. Er wartete eine Weile, bis Gorian sich etwas gefangen hatte, aber offenbar wollte der Junge nichts mehr sagen.
»Gorian, sieh mich an.« Kessian wartete, bis er gehorchte. »Wir wollen eins nach dem anderen angehen. Warum hast du dies zu deiner Mutter gesagt?«
Es gab eine Pause. »Ich glaube, weil ich wütend war. Ich wollte recht haben. Ich dachte, es wäre richtig.«
»Hast du das wirklich geglaubt? Aber ich nehme an, du siehst das jetzt anders.« Gorian nickte. »Trotzdem verstehe ich es nicht. Meera hat uns deutlich gemacht, dass du keine Reue empfunden hast. Weißt du noch, wie du dich dabei gefühlt hast?« Gorian schüttelte den Kopf. »Also gut, warum dann die schlaflose Nacht und die schuldbewussten Tränen heute Morgen? Weißt du, was dich umgestimmt hat? Du hattest genug Zeit zum Nachdenken. Versuche es für mich.«
Gorian sackte wieder in sich zusammen. »Weil ich wusste, dass du heute Morgen zu mir kommen würdest«, sagte er. »Ich wusste, dass du wütend sein würdest, und ich will dich nicht wütend machen.«
Kessian erwiderte Gorians Blick. »Ich weiß nicht, ob ich das beleidigend oder schmeichelhaft finden soll«, sagte er, auch wenn er wusste, dass der Junge den Kommentar nicht verstehen würde. »Das Problem ist, dass du, wenn du die Wahrheit sagst, nicht wegen deiner Taten Reue empfindest, sondern nur wegen der Reaktion, die du in mir auslösen könntest. Tut dir wirklich leid, was du getan hast?«
Gorian nickte. »Ich weiß, dass es falsch war.«
»Weißt du es jetzt, oder wusstest du es
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