Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Ärzte von Westfallen sich Mühe gegeben hatten, war das Ellenbogengelenk noch steif. Ossacer hatte nicht mehr daran arbeiten können. Seine Kraft hatte nur noch ausgereicht, um sich mühsam aus dem Bett zu erheben, nachdem er sich bei der Behandlung von Arducius’ Handgelenken so sehr verausgabt hatte.
»Lass ihn in Ruhe, Ardu«, sagte Mirron. »Er will doch nur helfen.«
»Da steckt aber etwas mehr dahinter«, meinte Ossacer.
Die drei saßen vor einem Springbrunnen, der abgestellt war, bis Genastro wieder die Rohrleitungen wärmte, auf einer Bank. Zum Glück würde es nicht mehr lange dauern, bis es wärmer wurde. Vor ihnen stand eine Kohlenpfanne auf einem Gestell, an der sie sich die ausgestreckten Hände wärmen konnte. Alle hatten sich eng in die Mäntel gehüllt und lange Beinlinge übergezogen. Dennoch war es eiskalt, auch wenn Mirron es mochte, wie der Atem sich vor ihren Gesichtern in Wolken verwandelte. Sie fand die Kälte belebend. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie sogar deren tiefe, dunkle Signatur spüren.
»Oh, und woher weißt du das?«, fragte sie ihn. Sie wusste es schon, aber sie legte Wert darauf, von ihm die Bestätigung zu bekommen.
»Es ist nicht gerade oft von Vorteil, blind zu sein, aber ich kann auf jeden Fall besser hören als du. Kovan spricht mit dir viel leiser und ernsthafter als mit uns anderen, besonders mit … du weißt schon wem. Ich glaube, da kämpfen zwei Rivalen um deine Zuneigung, liebe Mirron.«
Mirron drehte sich zu Ossacer um, der in ihre Richtung starrte und zweifellos ihre Lebenslinien beobachtete. Sie lächelte.
»Ich weiß nicht, was du damit meinst.«
»Dann bist du die Einzige, die es nicht erkennt.« Wie so oft ergriff Arducius Partei für Ossacer. »Sie mögen dich beide auf ihre Weise. Ich frage mich nur, für wen du dich entscheidest.«
Mirron errötete, und verspürte einen kleinen Schauer der Erregung. »Für keinen von beiden«, sagte sie, während Bilder von Gorian vor ihrem inneren Auge entstanden. »Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich mit Jungs abzugeben.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Wie auch immer, bist du nicht in der letzten Zeit Livvy rein zufällig ziemlich oft begegnet, Ardu?«
Jetzt errötete Arducius so heftig wie sie zuvor und rieb sich verlegen über sein Kinn, auf dem die ersten weichen Haare sprossen.
»Ich würde sie gern öfter sehen, aber man kann nicht gerade sagen, dass ihre Eltern unsere Freundschaft fördern.«
»Sie kann keine Mutter des Aufstiegs sein«, sagte Ossacer. »Du verschwendest deine Zeit.«
Arducius drehte sich abrupt zu ihm um. »Was meinst du damit?«
Ossacer tippte sich ans Ohr. »Du musst besser zuhören. Du weißt doch, dass wir nicht zufällig hier sind. Jedes Kind, das jetzt für den Aufstieg geboren wird, ist mit Vorbedacht und nicht durch Zufall entstanden. Denke an die Eltern der zehnten Linie und sage mir, dass ich mich irre. Gorian oder Kovan dagegen …« Er verschränkte die Arme unter dem Mantel und lehnte sich boshaft grinsend zurück. »Beide haben Stärken, die der Aufstieg braucht.«
»Hör auf damit, Ossacer«, sagte Mirron, die sich auf einmal nicht mehr wohl in ihrer Haut fühlte. Schließlich waren sie erst dreizehn. Doch sie sehnte sich nach Gorians Nähe und wollte seine Haut berühren. Sein Haar riechen und seinen starken Blick spüren.
In diesem Augenblick ging die Tür rechts unter dem überdachten Säulengang auf, und er kam heraus. Er trug einen schlichten schwarzen Mantel. Die Kapuze hatte er zurückgeworfen, und das wundervolle schulterlange blonde Haar umrahmte sein Gesicht. Allerdings war es ein gebrochenes und trauriges Gesicht. Mirron wäre am liebsten sofort zu ihm gerannt, um ihn zu umarmen und ihm zu sagen, dass alles in Ordnung sei und sie ihm alle verziehen hätten. Doch das konnte sie nicht. Zu frisch waren die Erinnerungen an die Verletzungen, die er ihren Brüdern zugefügt hatte.
Die Spannung lag in der Luft wie ein strenger Frost an einem Dusasvormittag. Arducius hatte sich etwas aufgerichtet und starrte Gorian an, während Ossacers Miene nichts als Verachtung zeigte. Sie wollte nicht, dass es so war. Mirron liebte sie alle viel zu sehr und wünschte sich, dass nichts von alledem geschehen wäre. Doch es war nicht zu ändern.
Gorians Blick wanderte zwischen ihnen hin und her, während er sich näherte. Er blieb vor der Kohlenpfanne stehen und machte keine Anstalten, sich zu ihnen zu setzen. Hinter ihm standen Hesther und Meera mit Vater Kessian in der
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