Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
nicht überheblich klingen, sondern dir nur die Tatsachen berichten.«
»Überheblichkeit zählt gewiss nicht zu deinen Charakterschwächen, Arvan.«
Vasselis nickte dankbar. »Ich musste mit ihnen sprechen, weil alle drei Faktoren bald hinterfragt werden könnten. Mein persönliches Ansehen ist mir gleichgültig, aber der Ruf meiner Familie und die enge Beziehung zwischen Caraduk und Estorea sind mir sehr wichtig. Ich glaube an das, was ihr hier tut, aber du musst mit deinen Mitbürgern deinen Teil dazu beitragen.
Westfallen wird bald in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Konkordanz rücken und so wichtig werden wie die Front in Tsard oder die Vertrags Verhandlungen mit Sirrane. Die höchsten Würdenträger der Konkordanz werden uns genau überprüfen. Wir müssen darauf vertrauen, dass jene, die hierherkommen, mit der Advokatin und dem Schatzkanzler übereinstimmen. Wir müssen darauf vertrauen, dass der Orden, wie man mir versichert hat, außen vor bleibt.
Außerdem müssen die Bürger von Westfallen in ihrem Glauben geeint sein.
Der Aufstieg darf nicht unterdrückt werden. Nicht jetzt. Allerdings muss ich sagen, dass die Berichte meiner Grenztruppen nicht sehr ermutigend sind. Gerüchte machen die Runde, aber bisher ist noch nichts Eindeutiges herausgekommen. So muss es bleiben, bis die Ermittler der Advokatin hier sind, denn nur ihre Billigung kann uns die nötige Sicherheit schenken.«
»Wann werden sie hier eintreffen?«, fragte Kessian und rang die Hände.
»Das kann ich dir nicht sagen. Noch nicht. Sie werden weder uns noch dem Orden eine Vorwarnung geben. Nun sage mir, dass ich nicht soeben den größten Fehler meines Lebens gemacht habe.«
Kessian nippte an seinem Tee. Seine Hände zitterten, was in diesem Moment nicht nur an seinem Alter lag.
»Wir haben zunehmende Schwierigkeiten mit einem Teil der Bürger. Dabei spielt es keine Rolle, dass viele von ihnen Kinder der Aufstiegslinien gezeugt oder geboren haben. Es spielt auch keine Rolle, dass die meisten vorübergehende oder länger anhaltende passive Fähigkeiten besessen haben. Unsere Aufgestiegenen sind neu, mächtig und erschreckend. Im Grunde will niemand eine Veränderung, und den Bürgern ist sehr deutlich bewusst, dass wir für Änderungen verantwortlich sind, die sich auf sie alle auswirken werden. Niemand spricht sich offen gegen uns aus, aber im Forum werde ich nicht mehr so warmherzig begrüßt wie früher.«
Vasselis nickte. Überraschend war dies nicht. Der Mut der meisten normalen Menschen war eine bestenfalls flüchtige Qualität. Doch es wäre ihm lieber gewesen, sie hätten dieses Problem nicht gerade jetzt.
»Dann werde ich zu ihnen sprechen. Morgen Mittag im Oratorium.«
»Ich werde die Vorbereitungen treffen.«
»Es ist an der Zeit, diese verschlafene Stadt darüber aufzuklären, was jenseits ihrer Felder und Fischereigründe vor sich geht. Den Bürgern sollte klar sein, dass die Advokatur sie im Blick hat. Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen müsste?«
Behutsam erzählte Ardol Kessian ihm von Gorian. Dabei breitete sich immer noch eine schreckliche Kälte in seiner Brust aus.
»Kannst du ihn unter Kontrolle halten?«
»Im Augenblick schon«, sagte Kessian. »Schließlich ist er noch ein Kind. Ich fürchte allerdings das, was er fühlen, denken und tun wird, wenn er älter und stärker ist, und wenn ich in Gottes Umarmung zurückgekehrt bin.«
»Dann müssen wir jetzt gleich Einfluss auf sein Verhalten nehmen.« Vasselis’ Miene wurde hart; nun sprach der Marschall, der eine Weisung verkündete. »Du darfst nicht zulassen, dass er sich zu einem Außenseiter entwickelt. Das ist zu gefährlich für uns, für unsere Familien und die Einwohner von Caraduk. Es gibt vier Aufgestiegene. Gorian ist nur einer, und trotz all der Kräfte, die er eines Tages sicherlich besitzen wird, ist er nur ein Mensch – ein Junge, aus dem ein Mann wird. Aus vieren, Ardol, können sehr leicht drei werden.«
17
847. Zyklus Gottes, 36. Tag des Dusasab
14. Jahr des wahren Aufstiegs
S ie trafen Gorian im Wintergarten, kurz bevor sie alle ins Oratorium gingen, um Marschall Vasselis’ Ansprache zu hören. Kovan Vasselis hatte bleiben wollen, um Mirron zu beschützen, aber sie hatte ihm versichert, dass ihr nichts geschehen könne, und so war er schließlich widerstrebend zu seinem Vater gegangen.
»Lässt der dich denn nie in Ruhe?«, fragte Arducius. Er winkelte mehrmals seinen Arm ab. Obwohl Genna Kessian und die
Weitere Kostenlose Bücher