Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
rings um das Forum schon die Laternen unter dem kalten grauen Himmel. Von seinem Standort im Oratorium aus konnte Marschall Arvan Vasselis die Versammlung der Bürger der Stadt überblicken, die er so sehr ins Herz geschlossen hatte. Die Autoritäten und die Leserin Elsa Gueran standen stolz zu seiner Linken. Obwohl man nicht mit Reisenden rechnete, da die Kälte alle bis auf die hartnäckigsten Händler abhielt, waren die Grenzen für die Dauer der Versammlung geschlossen worden.
Nur zwei Besucher hielten sich in Westfallen auf, die mit der schlichten Begründung ferngehalten wurden, dass der Marschallverteidiger in einer privaten, persönlichen Angelegenheit zu den Einwohnern des Ortes sprechen wollte. Das entsprach sogar der Wahrheit.
Die meisten Bürger wussten natürlich, worum es gehen sollte. Keiner kannte allerdings alle Einzelheiten, und Vasselis musste sein Bestes geben, damit sie sich hinter ihn und den Aufstieg stellten, um zu bewältigen, was auf sie zukam. Er blickte zu den dicken Wolken hinauf und hoffte, der Schnee würde noch lange auf sich warten lassen. Kessian hatte geschätzt, dass es erst am Abend schneien würde, während Arducius der Meinung war, es müsste früher beginnen. Die schwache Sonne war hinter den Wolken als blasser Fleck zu erkennen. Es wurde Zeit.
Vasselis stand auf, nahm die mit Pelz besetzten Stulpenhandschuhe ab und ging zur Bühne. Die Kälte fraß sich in sein Gesicht und die Hände, doch er wollte beides nicht verbergen und den Leuten offen in die Augen sehen. Das Murmeln der Zuhörer, die sich in der Kälte eng zusammendrängten, erstarb zu einem Flüstern und verstummte dann ganz. Der Wind pfiff um die Säulen, die das Forum begrenzten, und trug den Wellenschlag vom Strand heran, wo die Fischerboote sicher an Land gezogen waren.
Das Oratorium war gut beleuchtet, acht Kohlenpfannen waren auf der Bühne verteilt. Sie spendeten Vasselis jedoch nur wenig Wärme, als er unter dem Kuppeldach des nach vorne offenen Oratoriums zwischen zwei Pfeilern stand, die den Querbalken stützten.
»Meine Freunde, ich danke euch, dass ihr gekommen seid, um mir in einem Augenblick zuzuhören, in dem für Westfallen, Caraduk und für die ganze Estoreanische Konkordanz viel auf dem Spiel steht. Leider ist es mir nicht gelungen, wärmeres Wetter mitzubringen. Ich weiß nicht, wie es bei euch da unten steht, aber hier oben herrscht eine grässliche Kälte.«
Er wartete, bis das Gelächter abebbte. Erwartungsvolle und freundliche Gesichter waren ihm zugewandt. Er wusste, wie sehr sie ihn schätzten, und bekam Schuldgefühle wegen der Dinge, die er sagen musste. Es war das Ende der Unschuld – ein barsches Willkommen in der großen weiten Welt.
»Wie ihr wisst, verliebe ich mich jedes Mal, wenn ich herkomme, ein wenig mehr in diese schöne Stadt. Meine Frau und mein Sohn würden gern ständig hier leben, und es gefällt mir sehr, zwischen euch zu wandeln, eure Gesundheit, eure Kraft und eure Freundlichkeit zu spüren. Es gibt in der ganzen Konkordanz keinen zweiten Ort wie diesen, und ich ziehe den Hut vor allem, was ihr hier aufgebaut habt.«
Dieses Mal fielen die Hochrufe etwas lauter aus, und der Beifall erstarb erst nach einer ganzen Weile.
»Aber nicht nur das, was ihr aufgebaut habt, unterscheidet euch von allen anderen, sondern auch das, was ihr hier über die Jahrzehnte und Jahrhunderte gehegt und gepflegt habt – das große Werk, das so viele von euch entscheidend unterstützt haben. Ein großes und von Gott gesegnetes Werk. Ein Werk, das den meisten von euch Fähigkeiten geschenkt hat, die eines Tages viele und nicht nur wenige besitzen werden. Wie schön, dass ihr ein Teil davon wart. In tausend Jahren werden eure Namen und der Name Westfallens in der Geschichtsschreibung und den Legenden eine große Rolle spielen. Man wird euch nie vergessen.«
Jetzt lauschten sie mucksmäuschenstill und wie gebannt.
»Warum ist das so? Es ist so, weil sich im Augenblick das Potenzial verwirklicht, über das Gorian so viel geschrieben hat. Diese vier jungen Bürger zu meiner Rechten verkörpern das, wofür wir und unsere Vorväter so lange Zeit gearbeitet haben. Ihr habt sicher von den Prüfungen gehört, denen unsere Vorfahren unterworfen waren. Sie mussten den Aufstieg vor dem Orden geheim halten, immer wieder erlebten sie Rückschläge und mussten Schäden an Körper und Geist bei Neugeborenen erkennen, in die sie so große Hoffnungen gesetzt hatten. Sie mussten die Linien des Aufstiegs
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