Die Kinder von Estorea 02 - Der magische Bann
langsam vorankamen. Wenn sie einmal anhielten, vertiefte er sich in seine Karten und betrachtete die Berge, die sie auf allen Seiten umringten. Arducius vermochte zwischen ihnen keinen Unterschied zu erkennen. Beeindruckend zwar, aber eine unendliche Wüste. Wie leicht es wäre, hier einzudringen und nie wieder herauszufinden.
Wie an jedem Morgen waren sie lange vor der Dämmerung aufgestanden, hatten ein warmes Frühstück zu sich genommen und waren unterwegs, noch bevor die Morgendämmerung im Osten über die Gipfel kroch. Ohne eine weitere Mahlzeit ritten sie, bis die Sonne wieder unterging, und legten nur Pausen ein, damit sich die Maultiere erholen konnten – oder um sie zu führen, wo sie nicht reiten konnten. Hier waren die Tage kurz und die Nächte lang. Weiter oben, und dorthin wollte Jhered anscheinend, gab es wieder mehr Licht.
Sie waren in steilen Klüften bergauf und über weite Hochebenen gewandert, hatten sich einen Weg durch atemberaubende Schluchten gesucht und sich über Ödland gequält, wo der Wind erbarmungslos die Pflanzen peitschte. Seit zwei Tagen folgten sie schon diesem Weg, der sich immer höher und höher hinaufwand. Am vergangenen Abend hatten sie in einer winzigen Nische geschlafen, die vor langer Zeit irgendjemand in die nackte Bergflanke geschlagen hatte.
An diesem Tag hatten sie Glück. Etwas mehr als eine Stunde vor Sonnenuntergang hatten sie eine breite, natürliche Spalte im Fels erreicht. Sie bot einen guten Schutz vor den Unbilden des Wetters. Bäume mit harter Rinde krallten sich in die schroffen Hänge, das Heidekraut bohrte seine Wurzeln in die dünne Schicht aus gefrorener Erde, und auf jedem Stein und Fels wuchs das Moos. Die Südseite war mit Schnee und Eis bedeckt. Die Nordseite dagegen war ein Durcheinander aus Farben, die überhaupt nicht zu dem passen wollten, was sie in den letzten Tagen gesehen hatten. Jhered hatte keine Sekunde darüber nachgedacht, ob sie doch noch weitergehen sollten, und so hatte es nicht lange gedauert, bis ihr Schutzdach mithilfe der Stangen vor der Felswand aufgestellt war und im Windschatten der Klippe ein Feuer toste.
Die Aufgestiegenen und Kovan waren dankbar von ihren Maultieren gestiegen, die jetzt weiter hinten in der Schlucht an Bäume gebunden eng beisammen standen, und hatten sich dicht vors Feuer gehockt, um wieder aufzutauen. Jhered hatte auf die Flammen, die Mirron heraufbeschworen hatte, einen Topf gesetzt, in dem eine dicke Suppe mit Gemüse und Hammelfleisch blubberte.
Der Schnee fiel jetzt wieder dichter, vor dem Eingang der Spalte wehten dicke Flocken in großen Wolken vorbei. Jhered beobachtete das Schauspiel wie immer mit gerunzelter Stirn. Auch Gorian und Mirron starrten das Schneetreiben an, und der Grund war immer der gleiche.
»Denkt nur«, sagte Ossacer. »Vor dreißig Tagen sind wir noch unter den Genastrofällen geschwommen, und Vater Kessian hat uns dabei geholfen, die Windenergien zu verstehen und zu beherrschen.«
Gorian lächelte traurig und nickte, als die Erinnerungen erwachten. Mirron und Ossacer stiegen die Tränen in die Augen, und Arducius’ Herz krampfte sich zusammen.
»Eine so kurze Zeit, und doch kommt es mir wie eine Ewigkeit vor«, meinte Mirron.
»In Westfallen ist es immer noch warm.« Gorian rieb über den knackenden Flammen seine Hände.
Wie alle anderen hatte er damit experimentiert, sich warm zu halten, indem er auf die Energien aus der Umgebung zurückgriff. So hoch in den Bergen hätte dies aber bedeutet, die Maultiere oder die vereinzelten Pflanzen zu benutzen. Die Tiere wurden dabei jedoch störrisch, und wenn sie die Pflanzen heranzogen, ermüdeten sie viel zu schnell. Mit großer Enttäuschung hatte Gorian einsehen müssen, dass es ihm nicht gelingen würde, Jhered eins auszuwischen. Der Schatzkanzler fror wie sie alle, aber er und Menas beklagten sich natürlich nie.
»Gewöhnt euch daran«, sagte Jhered, ohne sich umzudrehen.
»Ihr kommt nicht wieder nach Hause, indem ihr davon träumt. Der einzige Weg besteht darin, den Krieg zu gewinnen.«
»Das sagt Ihr immer wieder«, antwortete Gorian.
»Weil ihr euch weigert, das zu akzeptieren, was ihr direkt vor der Nase habt.«
»Wir haben nur Euer Wort, dass es richtig ist, diesen Weg einzuschlagen. Bei Vasselis’ Männern wären wir wenigstens nicht erfroren.«
Zornig fuhr Jhered herum und sah Gorian böse an. »Nein, ihr wärt vielmehr unversehens auf atreskanische Rebellen oder tsardonische Truppen gestoßen. Wenn du meinst,
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