Die Kinderhexe
hatte genug von ihnen. In den Himmel sollten nur Kinder aufgenommen werden.
Der Junge, der kurz nach Ursula in ihre Zelle gebracht worden war, regte sich. Er war also doch nicht tot, wie sie bisher gedacht hatte. Regungslos war er in seinem Blut und dem Erbrochenen gelegen.
Er schlug die Augen auf und schaute sie an. Stellte er sich die gleiche Frage wie sie?
Ist es immer noch nicht vorbei?
Er stöhnte vor Schmerz, als er Kathi in die Augen sah. War er vor ihrem Anblick zurückgeschreckt, oder wollte er ihr etwas sagen? In beiden Fällen war es zu spät. Die Folterknechte kamen an ihre Tür.
«Steht auf, ihr Rattenvolk. Heute tretet ihr eurem Herrn, dem Teufel, gegenüber.»
An Aufstehen war nicht zu denken. Kathi hatte nach den Stockschlägen Faltermayers das Gefühl, ihre Beine nie wieder gebrauchen zu können, und die Zehen waren ohnehin kaputt geschlagen.
Daher packte ein Knecht sie und schleifte sie zur Tür hinaus auf den Gang, von dort die Treppen hoch auf den Innenhof, wo vier von Ochsen gezogene Karren bereitstanden, um sie aufzunehmen.
Als sie das erste Mal seit Tagen wieder ins Freie kam, glaubte sie sich an der frischen Luft verschlucken zu müssen, so überwältigend war das Gefühl. Ihre Lungen blähten sich, ihr wurde schwindelig.
Die Morgensonne brach über die Dächer in den Hof herein und hieß sie mit einem warmen, freundlichen Gruß willkommen. So musste es sein, wenn man ins Himmelreich einkehrte und von den Sorgen des Lebens entbunden wurde. Sie sah eine weite, blühende Wiese vor sich, wo Bienen summten und Schmetterlinge flogen. Drüben am Waldrand sah sie Babette stehen und ihr zuwinken.
Komm zu mir. Ich habe feinen, süßen Honig für dich.
Kathi seufzte.
Ich bin gleich bei dir, liebste Amme. Geh nicht fort.
Das Rasseln der Ketten nahm sie nur am Rande wahr. Auch den Priester, der zu ihr und den anderen auf den Karren kam, um sie zum Gebet anzuhalten, hatte keinerlei Bedeutung mehr. Sie hatte ein Ziel vor Augen, und das lag jenseits seiner leeren Worte.
Die Karren setzten sich in Bewegung, das Tor zum Juliusspital öffnete sich. Sie hob den Blick. Auf dem nächsten Karren sah sie Ursula inmitten anderer geplagter Gestalten. Sie drohte unter den Erwachsenen ganz zu verschwinden.
Sobald der Tross den geschützten Bereich des Innenhofs verlassen hatte, änderte sich die Situation um sie herum. Freudengeschrei erhob sich, Beleidigungen, Drohungen und Verwünschungen wurden laut. Steine und Prügel prasselten auf sie herab. Doch das alles ging an Kathi vorüber. Das Einzige, was jetzt noch zählte, war der Weg nach Golgatha, wo sie sich erschöpft, aber friedlich aus dieser Welt verabschieden wollte.
Das Einschreiten der Stadtknechte versprach etwas Schutz, wenngleich immer wieder aufgebrachte Bürger die Linien durchbrachen und auf die Gefangenen einschlugen. Es schien, als konzentrierten sich die Attacken auf ihren Karren und vor allem auf sie. Das mochte sie den Bürgern nicht verübeln, schließlich würde Faltermayer ihnen weisgemacht haben, dass sie die Hauptschuldige an den Gräueln der letzten Zeit gewesen war. Mit einem Gnadenakt bei der Hinrichtung brauchte sie nicht zu rechnen.
Der Tross der Karren bog auf den Marktplatz ein. Gemessen am aufbrausenden Lärm, mussten sich Tausende Bürger eingefunden haben. Wieso hier, fragte sich Kathi. Am Sanderanger war doch mehr Platz.
Als sie vor der Ritter-Kapelle eine große, rund zwei Meter hohe Bühne sah, die als Gerichtsschranne dienen sollte, ahnte sie, was Faltermayer vorhatte. Innerhalb der Stadtmauern, umgeben von Kirchen, Patrizierhäusern und Geschäften, würde er die Brandtage zu einem noch größeren Spektakel machen, als sie es bislang gewesen waren. Verkaufsstände würden die Schaulustigen verköstigen und Theaterbühnen sie unterhalten. Das Geld, das im Umlauf war, würde nicht länger aus der Stadt abfließen. Damit zog Faltermayer den Bischof und die Geschäftsleute endgültig auf seine Seite und machte sie von seiner Arbeit abhängig.
Das ohrenbetäubende Geschrei, das von den umstehenden Häusern zurückgeworfen wurde und sich in den engen Gassen brach, holte Kathi aus ihren Gedanken zurück. Auf dem Karren stehend, blickte sie über die wogende Menge hinweg, sah die bunten Gaukler und nahm den Geruch gebratenen Federviehs wahr. Händler verkauften krakeelend ihre Waren, Wanderheiler versprachen schnelle Genesung für ein paar Kreuzer, Kinder spielten. Selbst an Kiliani, dem Feiertag des Frankenheiligen St.
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