Die Kinderhexe
einmal umdrehte, sah er Kathi, wie sie ihm wütend nachblickte.
Doch dafür hatte er jetzt keine Zeit. Es galt an anderer Stelle ein Feuer zu löschen, das ihm bedrohlich nah kommen könnte. Er überquerte den Hof und schaute zum Schlafsaal der Kinder hoch. An den Fenstern war niemand zu sehen, aus dem Treppenaufgang war ebenfalls nichts zu hören. Das konnte ein gutes, aber auch ein schlechtes Zeichen sein. Hatten sie sich womöglich gegen ihn verbündet?
Als er die Tür öffnete, sah er Bruder Timotheus, wie er diesen fremden Jungen vom Sanderanger an den Ohren zog.
«Du kleiner Satan», schimpfte er. «Hast du nicht schon genug Unheil angerichtet?»
Die anderen Kinder beobachteten den Tadel mit gespannter Aufmerksamkeit. Die Älteste, Grit, hatte die Fäuste geballt.
«Genug», sagte Ludwig und trat ein. «Was geht hier vor?»
Timotheus war froh, ihn zu sehen. «Ludwig, gut, dass du endlich kommst. Du hast mich vor einer großen Sünde bewahrt. Dieser Bursche hier hat wahrlich den Teufel im Leib …»
Ludwig konnte sich schon denken, was Lorentz angestellt hatte – er hatte die Geheimnisse der anderen Kinder ausgeplaudert. Aber woher wusste der Bengel nur so viel? Das würde ein langer Tag werden, sagte er sich. Der Bengel würde nicht so schnell seine Quellen preisgeben. Dessen war er sich sicher. Aber er kannte Mittel und Wege, die ihn zum Sprechen bringen würden.
Bis dahin schickte er ihn mit Bruder Timotheus hinaus auf den Hof. Dort stand eine Tränke, in der er sich waschen sollte.
Zuvor musste er sehen, wie es um seine kleine Herde stand. Er befahl den Kindern, sich in einer Reihe aufzustellen.
«Wie habt ihr euch entschieden?», fragte er sie.
Den Anfang machte Grit. «Sie ist eine verfluchte Lügnerin», fauchte sie zornig. «Brennen soll sie dafür.»
Er nickte.
Die Nächste war Anna. Ihr war es egal. «Sie ist eine Lügnerin.»
Dann Ulrich. Er tat sich schwer. «Lügnerin.»
Benedikt war traurig. Dennoch: «Lügnerin.»
Der Junge aus Heidingsfeld war überzeugt. «Lügnerin.»
Andreß, der Schwachsinnige, freute sich unbändig. «Fünf, sechs und sieben, die Hex’ wird nimmer fliegen.»
Zuletzt kam noch Ursula. Sie schwieg.
«Nun, Ursula», fragte Ludwig und beugte sich zu ihr hinab. «Willst auch du die Hexe Babette nicht kennen, und bist auch du nie mit ihr zum Schalksberg ausgefahren?»
Sie schwieg weiter.
«Jetzt ist die Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Der Bischof und sein Hexenkommissar lassen bald nach mir schicken. Sie wollen wissen, ob wir alle einer gemeinen, hinterlistigen Lügnerin aufgesessen sind. Auch wenn Kathi deine Freundin ist und du sie nicht enttäuschen willst, so musst du dein Schicksal jetzt selbst in die Hand nehmen. Also, wofür entscheidest du dich?»
Ursula begann zu weinen.
Ihr Schluchzen verfing sich in einem Versorgungsschacht, der den Schlafsaal mit der Küche verband. Dort fiel das Weinen des Kindes auch niemandem auf, außer einem Jungen, der die Brotpforte, eine kleine Durchreiche zwischen Kloster und Straße, an der Armenspeisungen durchgeführt wurden, benutzt hatte, um ins Innere des Klosters zu gelangen.
Volkhardt glaubte, für einen Moment etwas gehört zu haben. Er verhielt sich still, horchte, aber da er nichts weiter vernahm, hangelte er sich weiter, bis er endlich in der Küche landete. Es roch verlockend nach Essen. Hier ein Topf voll Schmalz, dort eine geräucherte Wurst und unter den Tüchern frischgebackenes Brot. Er nahm von allem reichlich, stopfte sich die Taschen und die Backen voll. Vom Fenster aus blickte er in den Hof. Er sah einen Klosterbruder über eine Viehtränke gebeugt. Was machte der? Er schrubbte mit Bürste und Seife ein Kind.
Aus dem Wasser fuhr ein Kopf hoch, und ein kleiner Mund schnappte begierig nach Luft. Hätte er Lorentz nicht schon einmal halbwegs sauber gesehen, so hätte er ihn wohl nicht wiedererkannt. Lorentz brüllte, was das Zeug hielt, doch der Klosterbruder hatte kein Einsehen. Erneut tauchte er seinen Schopf unter Wasser.
Jenseits dieser Szene sah Volkhardt etwas Ungewöhnliches. Jemand, mit dem er nicht gerechnet hatte, kam auf den Hof. War er nicht in einem Männerkloster? Was machte dann diese Nonne hier? Sie trug einen Krug in der Hand. Offenbar war er leer, und sie suchte nach dem Brunnen.
Diesen Hinweis hatte er zwar nicht erhofft, aber er würde ihn an sein Ziel bringen. Er verließ die Küche, schlich sich an der Wand entlang, bis er zu der Tür kam, aus der die Nonne gekommen
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