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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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würdest und keine Sonderpflege benötigst. In diesem Fall, haben sie gesagt, können sie dich sofort aufnehmen, wenn du nichts dagegen hast, dir mit einem anderen ein Zimmer zu teilen. Wie siehst du das? Es würde eine Menge Probleme lösen.«
    Ein Zimmer mit einem anderen alten Mann teilen. Der nachts schnarcht und in sein Taschentuch spuckt. Der sich über die Tochter beschwert, die ihn im Stich gelassen hat. Der Groll gegen den Neuankömmling hegt, den Eindringling in seinen Bereich. »Natürlich habe ich nichts dagegen«, sagt er. »Es ist eine Erleichterung, zu wissen, wohin man gehen kann. Es nimmt allen eine Last von den Schultern. Vielen Dank, Álvaro, dass du dich darum gekümmert hast.«
    »Und die Gewerkschaft bezahlt natürlich«, sagt Álvaro. »Für deinen Aufenthalt, für die Mahlzeiten, für alle deine Bedürfnisse, während du dort bist.«
    »Das ist gut.«
    »So, ich muss jetzt wieder zur Arbeit. Ich überlasse dich Inés und den Jungen. Ich bin sicher, dass sie dir viel zu erzählen haben.«
    Bildet er sich das ein, oder wirft Inés Álvaro einen verstohlenen Blick zu, als er davongeht?
Lass mich nicht allein mit ihm, diesem Mann, den wir im Begriff sind zu verraten!
Abgeschoben in ein antiseptisches Zimmer in der entlegenen Westsiedlung, wo er keine Menschenseele kennt. Dort kann er vermodern.
Lass mich nicht mit ihm allein!
    »Setz dich, Inés. David, erzähl mir deine Geschichte von Anfang bis Ende. Lass nichts aus. Wir haben jede Menge Zeit.«
    »Ich bin entkommen«, sagt der Junge. »Ich hab dir’s ja vorher gesagt. Ich bin durch den Stacheldraht gegangen.«
    »Ich wurde angerufen«, sagt Inés. »Von einer völlig Fremden. Sie sagte, sie hätte David ohne Kleidung auf den Straßen herumwandernd entdeckt.«
    »Ohne Kleidung? Du bist von Punta Arenas weggelaufen, David, ohne Kleidung? Wann war das? Hat niemand dich aufzuhalten versucht?«
    »Meine Kleidung blieb im Stacheldraht hängen. Habe ich dir nicht versprochen, ich würde entkommen? Ich kann von überall entkommen.«
    »Und wo hat dich diese Frau gefunden, die Frau, die Inés angerufen hat?«
    »Sie hat ihn auf der Straße gefunden, im Dunkeln, kalt und nackt.«
    »Mir war nicht kalt. Ich war nicht nackt«, sagt der Junge.
    »Du hattest keine Kleidung an«, sagt Inés. »Das bedeutet, du warst nackt.«
    »Nun, das spielt keine Rolle«, unterbricht er, Simón. »Warum hat sich die Frau mit dir in Verbindung gesetzt, Inés? Warum nicht mit der Schule? Das wäre doch bestimmt das Nächstliegende gewesen.«
    »Sie hasst die Schule. Alle hassen sie«, sagt der Junge.
    »Ist sie wirklich so ein schrecklicher Ort?«
    Der Junge nickt nachdrücklich.
    Zum ersten Mal spricht Fidel. »Haben sie dich geschlagen?«
    »Man muss vierzehn sein, bevor sie dich schlagen können. Wenn du vierzehn bist, können sie dich schlagen, wenn du ungehorsam bist.«
    »Erzähl Simón vom Fisch«, sagt Inés.
    »Jeden Freitag mussten wir Fisch essen.« Der Junge schüttelt sich theatralisch. »Ich hasse Fisch. Fische haben Augen wie Señor León.«
    Fidel kichert. Im nächsten Moment lachen die beiden Jungen und können nicht aufhören.
    »Was sonst außer dem Fisch war so schrecklich an Punta Arenas?«
    »Wir mussten Sandalen tragen. Und Inés durfte mich nicht besuchen. Sie haben gesagt, sie ist nicht meine Mutter. Sie haben gesagt, ich bin eine Waise. Eine Waise ist jemand, der keine Mutter und keinen Vater hat.«
    »Das ist Unfug. Inés ist deine Mutter und ich bin dein Pate, was so gut wie ein Vater ist, manchmal besser. Dein Pate wacht über dich.«
    »Du hast nicht über mich gewacht. Du hast es zugelassen, dass sie mich nach Punta Arenas bringen.«
    »Das stimmt. Ich war ein schlechter Pate. Ich habe geschlafen, als ich hätte wachen sollen. Aber ich habe meine Lektion gelernt. In Zukunft werde ich besser auf dich aufpassen.«
    »Wirst du gegen sie kämpfen, wenn sie zurückkommen?«
    »Ja, so gut ich kann. Ich werde mir ein Schwert leihen. Ich werde sagen:
Versucht noch einmal, meinen Jungen zu stehlen, und ihr werdet es mit Don Simón zu tun bekommen!
«
    Der Junge strahlt begeistert. »Auch mit Bolívar«, sagt er. »Bolívar kann mich in der Nacht bewachen. Wirst du bei uns wohnen?« Er wendet sich an seine Mutter. »Kann Simón bei uns wohnen?«
    »Simón muss in ein Pflegeheim, um wieder gesund zu werden. Er kann nicht gehen. Er kann keine Treppen steigen.«
    »Doch, kann er! Du kannst doch gehen, Simón?«
    »Natürlich. Normalerweise kann ich es

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