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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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wohin er auch geht.«
    »Er klammert sich an das Buch, weil es Bilder hat«, erwidert Señor León. »Es ist ganz allgemein keine gute Methode, aus Büchern mit Bildern lesen zu lernen. Die Bilder lenken den Geist von den Worten ab. Und
Don Quijote
, was man auch sonst zu dem Buch sagen kann, ist kein Buch für Anfänger im Lesen. Davids gesprochenes Spanisch ist nicht schlecht, aber er kann nicht lesen. Er kann nicht einmal die Buchstaben des Alphabets aufsagen. Ich habe vorher noch nie einen so extremen Fall erlebt. Ich würde vorschlagen, dass wir eine Spezialistin, eine Therapeutin, hinzuziehen. Ich habe das Gefühl – und Kollegen von mir, die ich konsultiert habe, teilen mein Gefühl –, dass es ein Defizit geben könnte.«
    »Ein Defizit?«
    »Ein spezifisches Defizit, im Zusammenhang mit symbolischen Aktivitäten, der Arbeit mit Worten und Zahlen. Er kann nicht lesen. Er kann nicht schreiben. Er kann nicht zählen.«
    »Zu Hause liest und schreibt er. Er verbringt damit täglich etliche Stunden. Er ist vertieft in sein Lesen und Schreiben. Und er kann bis tausend, bis eine Million zählen.«
    Zum ersten Mal lächelt Señor León. »Er kann alle möglichen Zahlen aufsagen, ja, aber nicht in der richtigen Reihenfolge. Und die Zeichen, die er mit seinem Bleistift malt, können Sie schreiben nennen, kann er schreiben nennen, es ist aber kein Schreiben, wie allgemein verstanden. Ob die Zeichen irgendeine private Bedeutung haben, kann ich nicht beurteilen. Vielleicht ist es so. Vielleicht deuten sie auf ein künstlerisches Talent hin. Was ein zweiter und positiverer Grund ist, ihn einer Spezialistin vorzustellen. David ist ein interessantes Kind. Es wäre schade, ihn zu verlieren. Eine Spezialistin könnte uns sagen, ob dem Defizit einerseits und der Erfindungsgabe andererseits ein gemeinsamer Faktor zugrunde liegt.«
    Die Glocke ertönt. Señor León zieht ein Notizbuch aus der Tasche, kritzelt etwas hinein, reißt die Seite heraus. »Das ist der Name der Spezialistin, die ich empfehle, und ihre Telefonnummer. Sie besucht die Schule einmal wöchentlich, also können Sie sie hier treffen. Rufen Sie sie an und vereinbaren Sie einen Termin. In der Zwischenzeit werden David und ich unsere Bemühungen fortsetzen. Ich danke Ihnen für Ihr Kommen. Ich bin sicher, dass alles einen glücklichen Ausgang nimmt.«
     
    Er sucht Elena auf, berichtet von der Unterredung. »Kennst du Señor León überhaupt?«, fragt er. »Hat Fidel ihn als Lehrer gehabt? Ich kann seinen Beschwerden nicht so ohne weiteres Glauben schenken. Dass David ungehorsam ist, zum Beispiel. Er ist vielleicht manchmal etwas eigensinnig, aber nicht ungehorsam, nicht nach meiner Erfahrung.«
    Elena antwortet nicht, sondern ruft Fidel ins Zimmer. »Fidel, mein Schatz, erzähl uns von Señor León. David und er scheinen nicht gut miteinander auszukommen, und Simón macht sich Sorgen.«
    »Señor León ist in Ordnung«, sagt Fidel. »Er ist streng.«
    »Ist er streng zu Kindern, die dazwischenreden?«
    »Mag sein.«
    »Was glaubst du, warum er und David nicht gut miteinander auskommen?«
    »Weiß ich nicht. David sagt verrückte Sachen. Vielleicht gefällt das Señor León nicht.«
    »Verrückte Sachen? Was für verrückte Sachen?«
    »Weiß nicht … Er sagt verrückte Sachen auf dem Spielplatz. Alle denken, er ist verrückt, sogar die großen Jungs.«
    »Aber was denn für verrückte Sachen?«
    »Dass er Menschen verschwinden lassen kann. Dass er sich selbst verschwinden lassen kann. Er sagt, dass überall Vulkane sind, die wir nicht sehen können, nur er.«
    »Vulkane?«
    »Keine großen Vulkane, kleine. Die niemand sehen kann.«
    »Erschreckt er vielleicht die anderen Kinder mit seinen Geschichten?«
    »Weiß nicht. Er sagt, er will Zauberer werden.«
    »Das sagt er schon lange. Er hat mir erzählt, dass ihr, du und er, eines Tages im Zirkus auftreten werdet. Er wird Zaubertricks zeigen und du wirst Clown sein.«
    Fidel und seine Mutter tauschen Blicke.
    »Fidel wird einmal Musiker, kein Zauberer, kein Clown«, sagt Elena. »Fidel, hast du David gesagt, dass du Clown werden willst?«
    »Nein«, sagt Fidel und tritt unruhig von einem Fuß auf den anderen.
     
    Die Unterredung mit der Psychologin findet in der Schule statt. Sie werden in das gut beleuchtete, ziemlich sterile Zimmer geführt, in dem Señora Otxoa ihre Sprechstunden abhält. »Guten Morgen«, sagt sie, lächelt und reicht ihnen die Hand. »Sie sind die Eltern von David. Ich habe Ihren Sohn

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