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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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kennengelernt. Wir hatten ein langes Gespräch miteinander, mehrere Gespräche. Was für ein interessanter junger Mann!«
    »Bevor wir zum Eigentlichen kommen«, unterbricht er, »möchte ich klären, wer ich bin. Obwohl ich David schon lange kenne und einst eine Art Vormund für ihn war, bin ich nicht sein Vater. Aber –«
    Señora Otxoa hebt eine Hand. »Ich weiß. David hat es mir gesagt. David sagt, dass er seinen richtigen Vater nie kennengelernt hat. Er sagt auch« – hier wendet sie sich an Inés –, »dass Sie nicht seine richtige Mutter sind. Wir wollen über diese seine Überzeugungen sprechen, ehe wir zu anderem kommen. Weil, obwohl organische Faktoren im Spiel sein könnten, zum Beispiel Legasthenie, ich das Gefühl habe, dass Davids unausgeglichenes Benehmen im Klassenzimmer von einer – für ein Kind – rätselhaften Familiensituation herrühren könnte: von der Unsicherheit, wer er ist, woher er stammt.«
    Er tauscht Blicke mit Inés. »Sie benutzen das Wort
richtig
«, sagt er. »Sie sagen, wir sind nicht seine richtige Mutter und sein richtiger Vater. Was meinen Sie genau mit richtig? Man kann doch gewiss das Biologische auch überbewerten.«
    Señora Otxoa schürzt die Lippen und schüttelt den Kopf. »Wir wollen nicht allzu theoretisch werden. Wir wollen uns lieber auf Davids Erfahrungen und Davids Verständnis vom Richtigen konzentrieren. Das Richtige, möchte ich andeuten, ist das, was David in seinem Leben vermisst. Die Erfahrung, dass ihm das Richtige fehlt, schließt die Erfahrung ein, dass ihm richtige Eltern fehlen. David hat keinen Halt im Leben. Daher sein Rückzug in eine Phantasiewelt, über die er mehr Kontrolle hat.«
    »Aber er hat einen Halt«, sagt Inés. »Ich bin sein Halt. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn über alles in der Welt. Und das weiß er.«
    Señora Otxoa nickt. »In der Tat. Er hat mir erzählt, wie sehr Sie ihn lieben – wie sehr Sie beide ihn lieben. Ihr Wohlwollen macht ihn glücklich; er spürt Ihnen gegenüber ebenfalls das größte Wohlwollen. Dennoch fehlt etwas, etwas, das Wohlwollen oder Liebe nicht bieten können. Weil eine positive emotionale Umgebung, obwohl sie sehr viel bedeutet, nicht ausreicht. Es ist dieser Unterschied, das Fehlen einer richtigen elterlichen Präsenz, die zu besprechen ich uns heute zusammengerufen habe. Warum?, fragen Sie. Weil ich, wie schon gesagt, das Gefühl habe, dass Davids Lernschwierigkeiten daher stammen, dass ihn eine Welt verwirrt, aus der seine richtigen Eltern verschwunden sind, eine Welt, von der er nicht weiß, wie er in sie gekommen ist.«
    »David ist mit dem Schiff gekommen, wie alle anderen auch«, wendet er ein. »Vom Schiff in das Lager, vom Lager nach Novilla. Keiner von uns weiß mehr über unsere Herkunft. Wir sind alle von Erinnerungen reingewaschen, mehr oder weniger. Was ist so besonders an Davids Fall? Und was hat das alles mit Lesen und Schreiben zu tun, mit Davids Problemen im Klassenzimmer? Sie haben Legasthenie erwähnt. Leidet David an Legasthenie?«
    »Ich habe Legasthenie als eine Möglichkeit erwähnt. Ich habe ihn nicht daraufhin untersucht. Aber wenn sie wirklich vorhanden ist, halte ich sie nur für einen zusätzlichen Faktor. Nein, um zu Ihrer Hauptfrage zu kommen, das Besondere an Davids Fall ist meiner Meinung nach, dass er sich als etwas Besonderes fühlt, sogar als anormal. Natürlich ist er nicht anormal. Und was das Besondere betrifft, lassen Sie uns diese Frage einstweilen zurückstellen. Lassen Sie uns, alle drei, stattdessen den Versuch machen, die Welt durch seine Augen zu sehen, ohne ihm unsere Art, die Welt zu sehen, aufzuzwingen. David möchte wissen, wer er wirklich ist, aber wenn er fragt, bekommt er ausweichende Antworten wie: ›Was meinst du mit wirklich?‹ oder ›Wir haben keine Geschichte, keiner von uns, sie ist gänzlich weggewaschen.‹ Können Sie es ihm vorwerfen, dass er frustriert und rebellisch ist und sich dann in eine private Welt zurückzieht, wo er frei ist, seine eigenen Antworten zu erfinden?«
    »Wollen Sie uns sagen, dass die unleserlichen Seiten, die er für Señor León schreibt, Geschichten darüber sind, wo er herkommt?«
    »Ja und nein. Das sind Geschichten für ihn selbst, nicht für uns. Deshalb schreibt er sie in einer Privatschrift.«
    »Wie können Sie das wissen, wenn Sie sie nicht lesen können? Hat er sie Ihnen erklärt?«
    »Señor, damit Davids Beziehung zu mir sich positiv gestaltet, ist es wichtig, dass er sich auf mich verlassen kann, dass

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