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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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der ihn zu seinem ersten Schultag bringen wird. Der Junge hat seinen neuen Pullover an, das rote Lederetui mit dem Anfangsbuchstaben D darauf in der Hand und den zerfledderten
Don Quijote
der Ostsiedlungsbücherei unterm Arm. Fidel ist schon an der Bushaltestelle, zusammen mit einem halben Dutzend anderer Kinder aus der Siedlung. Demonstrativ ignoriert ihn David.
    Weil sie das zur Schule Gehen als Teil eines normalen Lebens erscheinen lassen wollen, stimmen sie überein, den Jungen nicht nach Geschichten aus dem Klassenzimmer zu fragen; und er seinerseits bleibt wortkarg, ganz ungewöhnlich für ihn. »Lief es gut heute in der Schule?«, wagt er am fünften Tag zu fragen. – »Mmh«, antwortet der Junge. – »Hast du schon neue Freunde gewonnen?« Der Junge lässt sich nicht zu einer Antwort herab.
    So geht das drei, vier Wochen lang. Dann kommt ein Brief mit der Post, mit der Adresse der Schule in der oberen linken Ecke. Überschrieben mit »Außerordentliche Benachrichtigung« fordert es die Eltern des betreffenden Schülers/der betreffenden Schülerin auf, die Schulsekretärin zu kontaktieren, sobald es ihnen möglich ist, um einen Termin für eine Konsultation mit dem betreffenden Klassenlehrer zu vereinbaren, um gewisse Fragen zu besprechen, die sich bezüglich ihres Sohnes/ihrer Tochter ergeben haben.
    Inés ruft in der Schule an. »Ich bin den ganzen Tag frei«, sagt sie. »Nennen Sie eine Zeit und ich werde da sein.« Die Sekretärin schlägt um elf am nächsten Vormittag vor, während Señor Leóns Freistunde. »Es wäre das Beste, wenn der Vater des Jungen mitkommt«, fügt sie hinzu. »Mein Sohn hat keinen Vater«, antwortet Inés. »Ich werde seinen Onkel bitten mitzukommen. Sein Onkel kümmert sich um ihn.«
    Señor León, der Lehrer für die erste Klasse, entpuppt sich als hochgewachsener junger Mann mit einem dunklen Bart und nur einem Auge. Das tote Auge, aus Glas, bewegt sich nicht in seiner Höhle; er, Simón, fragt sich, ob die Kinder das nicht irritiert.
    »Wir haben nicht viel Zeit«, sagt Señor León, »deshalb will ich gleich zur Sache kommen. Ich schätze David als intelligenten Jungen ein, sehr intelligent. Er hat eine schnelle Auffassungsgabe, begreift neue Ideen sofort. Aber es fällt ihm schwer, sich an die Gegebenheiten im Klassenzimmer anzupassen. Er erwartet, dass er die ganze Zeit tun und lassen kann, was er will. Vielleicht ist das so, weil er ein wenig älter ist als der Durchschnitt der Klasse. Oder vielleicht ist er zu Hause gewohnt gewesen, zu leicht seinen Willen durchzusetzen. Auf jeden Fall ist es keine positive Entwicklung.«
    Señor León macht eine Pause, legt die Finger der einen Hand gegen die Finger der anderen, Spitze an Spitze, und wartet auf ihre Antwort.
    »Ein Kind sollte frei sein«, sagt Inés. »Ein Kind sollte seine Kindheit genießen können. Ich hatte meine Zweifel, ob es richtig ist, David so jung in die Schule zu schicken.«
    »Sechs Jahre ist nicht jung für den Schulbesuch«, sagt Señor León. »Im Gegenteil.«
    »Trotzdem ist er jung, und an seine Freiheit gewöhnt.«
    »Ein Kind gibt seine Freiheit nicht auf, wenn es zur Schule geht«, sagt Señor León. »Es gibt seine Freiheit nicht auf, wenn es stillsitzt. Es gibt seine Freiheit nicht auf, wenn es auf das hört, was der Lehrer zu sagen hat. Freiheit ist nicht unvereinbar mit Disziplin und harter Arbeit.«
    »Sitzt David nicht still? Hört er nicht auf das, was Sie sagen?«
    »Er ist unruhig, und er macht die anderen Kinder auch unruhig. Er steht von seinem Platz auf und wandert umher. Er verlässt das Zimmer ohne Erlaubnis. Und nein, er hört nicht auf das, was ich sage.«
    »Das ist merkwürdig. Zu Hause wandert er nicht herum. Wenn er in der Schule herumwandert, dann muss es einen Grund dafür geben.«
    Das einzelne Auge bohrt sich in Inés.
    »Und was das Unruhige angeht«, sagt sie, »so ist er immer gewesen. Er bekommt nicht genug Schlaf.«
    »Eine milde Diät wird das beheben«, sagt Señor León. »Keine Gewürze. Nichts Aufputschendes. Ich komme nun zu den Einzelheiten. Beim Lesen hat David unglücklicherweise keine Fortschritte gemacht, überhaupt keine. Andere Kinder, die keine solche natürliche Begabung haben, lesen besser als er. Viel besser. An der Tätigkeit des Lesens ist etwas, das zu begreifen er offenbar unfähig ist. Das Gleiche betrifft Zahlen.«
    Er, Simón, mischt sich ein. »Aber er hat eine Liebe für Bücher. Das müssen Sie bemerkt haben. Er trägt
Don Quijote
mit sich,

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