Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
ich nicht weitergebe, was zwischen uns geschehen ist. Sogar ein Kind sollte ein Recht auf seine kleinen Geheimnisse haben. Aber aus den Gesprächen, die David und ich gehabt haben, entnehme ich, ja, nach seinem Verständnis schreibt er Geschichten über sich selbst und seine wahre Herkunft. Die er, aus Rücksicht auf Sie beide, verborgen hält, um Sie nicht zu verärgern.«
»Und was ist seine wahre Abstammung? Wo kommt er, seiner Ansicht nach, wirklich her?«
»Das zu sagen, steht mir nicht zu. Aber da gab es einen bestimmten Brief. Er spricht von einem Brief, der die Namen seiner wahren Eltern enthielt. Er sagt, Sie, Señor, wüssten von dem Brief. Stimmt das?«
»Ein Brief von wem?«
»Er sagt, er habe den Brief bei sich gehabt, als er mit dem Schiff angekommen sei.«
»Aha,
der
Brief! Nein, Sie irren sich, der Brief ging verloren, bevor wir an Land kamen. Er ging während der Überfahrt verloren. Ich habe ihn nie gesehen. Weil er den Brief verloren hatte, übernahm ich die Verpflichtung, dass ich ihm helfen würde, seine Mutter zu finden. Sonst wäre er hilflos gewesen. Er wäre noch in Belstar, er hinge immer noch in der Luft.«
Señora Otxoa notiert sich etwas energisch.
»Wir kommen jetzt zum praktischen Problem von Davids Verhalten im Klassenzimmer«, sagt sie und legt ihren Stift weg. »Zu seinem Ungehorsam. Dazu, dass er keine Fortschritte macht. Zu den Konsequenzen dieses Mangels an Fortschritt und dieses Ungehorsams für Señor León und die anderen Kinder in der Klasse.«
»Ungehorsam?« Er wartet darauf, dass Inés auch etwas sagt, doch nein, sie überlässt es ihm zu sprechen. »Zu Hause, Señora, ist David stets höflich und benimmt sich ordentlich. Mir fällt es schwer, diesen Berichten von Señor León Glauben zu schenken. Was meint er denn genau mit Ungehorsam?«
»Er meint eine beständige Infragestellung seiner Autorität als Lehrer. Er meint die Weigerung, Führung zu akzeptieren. Und das bringt mich zum Hauptpunkt. Ich möchte vorschlagen, dass wir David aus der regulären Klasse herausnehmen, wenigstens für jetzt, und ihn stattdessen in einem Betreuungsprogramm unterbringen, das auf seine individuellen Bedürfnisse abgestimmt ist. Wo er in seinem eigenen Tempo vorankommen kann, unter Berücksichtigung seiner schwierigen Familiensituation. Bis er soweit ist, dass er sich seiner Klasse wieder anschließen kann. Und ich bin zuversichtlich, dass er das können wird, da er ein intelligentes Kind mit einer schnellen Auffassungsgabe ist.«
»Und dieses Betreuungsprogramm …?«
»Das Programm, an das ich denke, wird vom Sonderlernzentrum in Punta Arenas durchgeführt, nicht weit von Novilla, an der Küste gelegen, in einer sehr angenehmen Umgebung.«
»Wie weit?«
»Fünfzig Kilometer, ungefähr.«
»Fünfzig Kilometer! Das ist viel Fahrerei jeden Tag hin und zurück für ein kleines Kind. Gibt es einen Bus dorthin?«
»Nein. David wird im Lernzentrum wohnen und jedes zweite Wochenende zu Hause verbringen, wenn er das möchte. Nach unserer Erfahrung funktioniert es am besten, wenn das Kind dort untergebracht ist. Es gestattet eine gewisse Distanz zu einer häuslichen Situation, die unter Umständen zu dem Problem beiträgt.«
Er wechselt Blicke mit Inés. »Und wenn wir das ablehnen?«, sagt er. »Wenn wir ihn lieber weiter in Señor Leóns Klasse gehen lassen wollen?«
»Und wenn wir ihn lieber aus dieser Schule herausnehmen wollen, wo er nichts lernt?«, schaltet sich Inés mit schriller werdender Stimme ein. »Für die er sowieso zu jung ist. Das ist der wahre Grund, warum er Schwierigkeiten hat. Er ist zu jung.«
»Señor León ist nicht länger bereit, David in seiner Klasse zu behalten, und nachdem ich mir selbst ein Bild gemacht habe, verstehe ich, warum. Was sein Alter betrifft, so hat David das normale Einschulungsalter. Señor, Señora, ich berate Sie mit Davids Wohl im Auge. Er macht keine Fortschritte in der Schule. Er ist ein Unruhestifter. Ihn von der Schule zu nehmen und in die häusliche Umgebung zurückzuführen, die er deutlich als verunsichernd empfindet, kann nicht die Lösung sein. Daher müssen wir einen anderen, kühneren Schritt tun. Und darum empfehle ich Punta Arenas.«
»Und wenn wir das ablehnen?«
»Señor, ich wünschte, Sie würden das nicht so formulieren. Glauben Sie mir, Punta Arenas ist die beste Möglichkeit, die wir haben. Wenn Sie und Señora Inés Punta Arenas vorher einen Besuch abstatten möchten, kann ich das arrangieren, damit Sie sich
Weitere Kostenlose Bücher