Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
selbst überzeugen können, dass es sich um eine erstklassige Einrichtung handelt.«
»Aber wenn wir diese Einrichtung besuchen und es immer noch ablehnen, was dann?«
»Was dann?« Señora Otxoa breitet die Hände mit einer Geste der Ratlosigkeit aus. »Sie haben mir zu Beginn dieser Unterredung gesagt, dass Sie nicht der Vater des Jungen sind. In seinen Papieren steht nichts über seine Herkunft, seine wahre Herkunft. Ich würde sagen … Ich würde sagen, dass Ihre Befugnis zu diktieren, wo er seine Bildung erlangen sollte, auf tönernen Füßen steht.«
»Sie werden uns also unser Kind wegnehmen.«
»Bitte sehen Sie es doch nicht so. Wir nehmen Ihnen nicht das Kind weg. Sie werden ihn regelmäßig sehen, jede zweite Woche. Ihr Zuhause wird weiter sein Zuhause sein. In jeder praktischen Hinsicht werden Sie weiter seine Eltern sein, wenn er nicht entscheidet, dass er von Ihnen getrennt werden möchte. Was er in keiner Weise angedeutet hat. Im Gegenteil, er hat Sie außerordentlich gern, Sie beide – er hat Sie gern und hängt an Ihnen.
Ich wiederhole noch einmal, Punta Arenas ist meiner Meinung nach die beste Lösung für das Problem, vor dem wir stehen, und obendrein eine großzügige Lösung. Denken Sie darüber nach. Nehmen Sie sich Zeit. Besuchen Sie Punta Arenas, wenn Sie mögen. Danach können wir, zusammen mit Señor León die Einzelheiten besprechen.«
»Und in der Zwischenzeit?«
»Ich schlage vor, dass David in der Zwischenzeit mit Ihnen nach Hause geht. Es tut ihm nicht gut, in Señor Leóns Klasse zu bleiben, und es tut ganz bestimmt seinen Klassenkameraden nicht gut.«
Fünfundzwanzig
» W arum fahren wir jetzt schon nach Hause?«
Sie befinden sich im Bus, alle drei, auf der Rückfahrt zur Siedlung.
»Weil das Ganze ein Fehler war«, sagt Inés. »Sie sind zu alt für dich, diese Jungen in deiner Klasse. Und der Lehrer, dieser Señor León, weiß nicht, wie man unterrichtet.«
»Señor León hat ein magisches Auge. Er kann es herausnehmen und in die Tasche stecken. Einer der Jungen hat es gesehen.«
Inés schweigt.
»Gehe ich morgen wieder in die Schule?«
»Nein.«
»Um genau zu sein«, schaltet er sich ein, »du wirst nicht wieder in Señor Leóns Schule gehen. Deine Mutter und ich werden über eine andere Art von Schule für dich sprechen. Vielleicht.«
»Wir sprechen über keine anderen Schulen«, sagt Inés. »Die Schule war von Anfang an eine schlechte Idee. Ich weiß nicht, warum ich es erlaubt habe. Was hat diese Frau über Legasthenie gesagt? Was ist Legasthenie?«
»Wenn man nicht in der Lage ist, die Wörter in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Wenn man nicht von links nach rechts lesen kann. So ähnlich. Ich weiß es nicht.«
»Ich habe keine Legasthenie«, sagt der Junge. »Ich habe gar nichts. Schicken sie mich nach Punta Arenas? Ich will nicht dahin.«
»Was weißt du über Punta Arenas?«, fragt er.
»Dort gibt es Stacheldraht und man muss in einem Schlafsaal schlafen und man darf nicht nach Hause.«
»Du wirst nicht nach Punta Arenas geschickt werden«, sagt Inés. »Nicht solange ich lebe.«
»Wirst du sterben?«, fragt der Junge.
»Nein, natürlich nicht. Es ist nur eine Redensart. Du gehst nicht nach Punta Arenas.«
»Ich habe mein Heft vergessen. Mein Schreibheft. Es ist in meinem Pult. Können wir zurück und es holen?«
»Nein. Nicht jetzt. Ich hole es ein andermal.«
»Und mein Etui.«
»Das Stiftetui, das wir dir zum Geburtstag geschenkt haben?«
»Ja.«
»Auch das werde ich holen. Keine Sorge.«
»Wollen sie mich wegen meiner Geschichten nach Punta Arenas schicken?«
»Nicht deswegen«, sagt er. »Es ist eher, dass sie nicht wissen, was sie mit dir anfangen sollen. Du bist ein außergewöhnliches Kind, und sie wissen nicht, was sie mit außergewöhnlichen Kindern anfangen sollen.«
»Warum bin ich außergewöhnlich?«
»Diese Frage hast nicht du zu stellen. Du bist einfach außergewöhnlich, und mit dieser Tatsache wirst du leben müssen. Manchmal wird das deinen Weg leichter machen und manchmal schwerer. Das ist einer der Fälle, wo es dadurch schwerer wird.«
»Ich will nicht in die Schule gehen. Die Schule gefällt mir nicht. Ich kann mir selbst alles beibringen.«
»Das glaube ich nicht, David. Ich glaube, du hast dir in letzter Zeit zuviel selbst beigebracht. Das ist das halbe Problem. Etwas mehr Bescheidenheit, etwas mehr Bereitschaft, von anderen zu lernen, das ist nötig.«
»Du kannst mich unterrichten.«
»Danke. Sehr
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