Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Álvaro dem Kutscher zu, der auf seinem Sitz döst. »Wo ist die große Stute? Der Junge ist extra ihretwegen gekommen.«
»Hat die Pferdegrippe.«
»Er heißt El Rey«, sagt der Junge. »Er ist keine Stute. Kann ich ihn besuchen?«
Álvaro und der Kutscher wechseln einen vorsichtigen Blick. »El Rey ist wieder im Stall und ruht sich aus«, sagt Álvaro. »Der Pferdearzt wird ihm Medizin geben. Wir können ihn besuchen, wenn es ihm wieder besser geht.«
»Ich will ihn jetzt besuchen. Ich kann machen, dass es ihm besser geht.«
Er, Simón, schaltet sich ein. »Nicht jetzt, mein Junge. Wir wollen erst mit Inés sprechen. Dann können wir vielleicht alle drei morgen einen Ausflug zu den Ställen machen.«
»Wartet lieber ein paar Tage«, sagt Álvaro und wirft ihm einen Blick zu, den er nicht zu deuten weiß. »Lasst El Rey sich erst einmal richtig erholen. Pferdegrippe ist eine schlimme Sache, gefährlicher als Menschengrippe. Wenn man die Pferdegrippe hat, braucht man Ruhe, keine Besucher.«
»Er will Besucher«, sagt der Junge. »Er will mich. Ich bin sein Freund.«
Álvaro nimmt ihn, Simón beiseite. »Es wäre besser, wenn du mit dem Jungen nicht zu den Ställen gehst«, sagt er; und als er immer noch nicht versteht: »Die Stute ist alt. Ihre Zeit ist um.«
»Álvaro hat gerade eine Nachricht vom Pferdearzt bekommen«, berichtet er dem Jungen. »Sie haben beschlossen, El Rey auf die Pferdefarm zu schicken, damit er sich schneller erholen kann.«
»Was ist eine Pferdefarm?«
»Auf einer Pferdefarm werden junge Pferde geboren und alte Pferde können sich dort ausruhen.«
»Können wir dorthin?«
»Die Pferdefarm ist weit draußen auf dem Land, ich weiß nicht, wo genau. Ich werde mich erkundigen.«
Als die Männer um vier Feierabend machen, ist der Junge nirgends zu sehen. »Er ist mit dem letzten Wagen mitgefahren«, sagt einer der Männer. »Ich dachte, du wüßtest Bescheid.«
Er macht sich sofort auf den Weg. Als er am Kornspeicher ankommt, geht die Sonne gerade unter. Der Speicher ist menschenleer, die großen Türen sind verschlossen. Sein Herz schlägt schnell, er sucht nach dem Jungen. Er findet ihn hinter dem Speicher, auf einer Laderampe, neben dem Körper von El Rey hockend, ihren Kopf streichelnd, die Fliegen verscheuchend. Der kräftige Ledergurt, der dazu gedient haben muss, die Stute hochzuziehen, ist noch um ihren Bauch.
Er klettert auf die Rampe hinauf. »Armer, armer El Rey!«, murmelt er. Dann bemerkt er das Blut, das im Pferdeohr geronnen ist, und das dunkle Einschussloch darüber und verstummt.
»Es ist gut«, sagt der Junge. »Er wird in drei Tagen wieder gesund.«
»Hat dir das der Pferdearzt gesagt?«
Der Junge schüttelt den Kopf. »El Rey.«
»Hat dir das El Rey selbst gesagt – drei Tage?«
Der Junge nickt.
»Aber es ist nicht nur Pferdegrippe, mein Junge. Das siehst du doch bestimmt selbst. Er wurde mit einem Gewehr erschossen, als Gnadenakt. Er muss gelitten haben. Er hat gelitten und sie haben beschlossen, ihm zu helfen, seine Schmerzen zu lindern. Er wird nicht wieder gesund. Er ist tot.«
»Nein, er ist nicht tot.« Tränen laufen dem Jungen die Wangen hinab. »Er kommt auf die Pferdefarm, um sich zu erholen. Das hast du gesagt.«
»Er kommt auf die Pferdefarm, ja, aber nicht diese Pferdefarm, nicht auf die Pferdefarm hier; er kommt auf eine andere Pferdefarm, in einer anderen Welt. Wo er kein Geschirr tragen und keinen schweren Wagen ziehen muss, sondern auf den Wiesen im Sonnenschein herumlaufen und Butterblumen fressen kann.«
»Das ist nicht wahr! Er kommt auf die Pferdefarm, um wieder gesund zu werden. Sie legen ihn auf den Wagen und bringen ihn auf die Pferdefarm.«
Der Junge beugt sich herab und presst seinen Mund auf eine der riesigen Nüstern des Pferdes. Hastig packt er den Jungen beim Arm und zieht ihn weg. »Mach das nicht! Das ist unhygienisch! Du wirst krank werden!«
Der Junge reißt sich los. Er weint ganz offen. »Ich werde ihn retten!«, schluchzt er. »Er soll leben! Er ist mein Freund!«
Er hält den sich sträubenden Jungen fest an sich gedrückt. »Mein liebes, liebes Kind, manchmal sterben die, die wir lieben, und wir können nichts weiter tun, als auf den Tag zu warten, an dem wir alle wieder beisammen sein werden.«
»Ich will ihn wieder atmen lassen!«, schluchzt der Junge.
»Es ist ein Pferd, es ist zu groß für dich, um es zu beatmen.«
»Dann kannst du ihn beatmen!«
»Das wird nicht funktionieren. Ich habe nicht den
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