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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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…«
    »Und du sahst sie bluten?«
    Dorcas nickte, und ihr hellblondes Haar glänzte im Licht. »Also rief ich nach dir – zwei Mal – und sah dich auf der Sandbank, wo dieses Ding dir nachsetzte.«
    »Kein Grund, so blaß zu werden«, sagte ich. »Jolenta wurde von einem Tier gebissen, das ist klar. Ich weiß nicht, von was für einem, aber der Wunde nach zu schließen war’s ein recht kleines, vor dem man sich nicht mehr zu fürchten braucht wie vor jedem kleinen Tier mit scharfen Zähnen und schlechten Anlagen.«
    »Severian, ich habe gehört, weiter nördlich gebe es blutsaugende Fledermäuse. Als ich noch ein Kind war, machte man mir immer Angst mit Geschichten darüber. Später verirrte sich einmal eine gewöhnliche Fledermaus in unser Haus. Jemand brachte sie um, und ich fragte meinen Vater, ob es eine blutsaugende Fledermaus sei und ob es so etwas wirklich gäbe. Er sagte, die gebe es, aber nur im Norden, in den dampfenden Urwäldern der Weltmitte. Sie würden schlafende Menschen und weidende Tiere bei Nacht beißen, und der Biß sei giftig, so daß die Wunde nicht zu bluten aufhöre.«
    Dorcas hielt, in die Bäume blickend, inne. »Mein Vater sagte, die Stadt, einst eine Autochthonensiedlung an der Gyollmündung, krieche seit ihren Anfängen entlang des Flusses nordwärts, und wie schlimm es wäre, würden sie erst einmal die Gegend erreichen, wo die blutsaugenden Fledermäuse lebten, die sich in verwahrlosten Gebäuden einnisten könnten. Es muß für die Leute des Hauses Absolut schon schlimm genug sein. So weit können wir noch gar nicht von ihm entfernt sein.«
    »Der Autarch ist zu bedauern«, meinte ich. »Aber ich habe dich wohl noch nie so viel über dein früheres Leben sprechen hören. Erinnerst du dich jetzt an deinen Vater und das Haus, worin die Fledermaus erschlagen worden ist?«
    Sie erhob sich; obwohl sie tapfer sein wollte, sah ich, daß sie zitterte. »An jedem Morgen kann ich mich nach meinen Träumen an mehr erinnern. Aber wir müssen jetzt aufbrechen, Severian. Jolenta wird sehr geschwächt sein. Sie muß etwas zu essen und sauberes Wasser zu trinken bekommen. Hier können wir nicht bleiben.«
    Ich selbst hatte einen Bärenhunger; also legte ich das braune Buch in die Gürteltasche zurück und steckte die frisch geölte Klinge von Terminus Est in die Scheide. Dorcas packte ihre Siebensachen zusammen.
    Dann machten wir uns auf den Weg und überquerten den Fluß an einer Furt weit oberhalb der Sandbank. Jolenta konnte nicht ohne Hilfe gehen; wir mußten sie links und rechts stützen. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, und sie sprach, obwohl sie das Bewußtsein wiedererlangt hatte, als wir sie aufhoben, nur selten. Wenn sie etwas sagte, dann nur ein, zwei Wörter. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie schmal ihre Lippen waren und daß die Unterlippe ihre ganze Festigkeit eingebüßt hatte; schlaff hing sie nach unten, wodurch das Gebiß und das bläuliche Zahnfleisch zutage traten. Es hatte den Anschein, ihr ganzer Leib, gestern noch von solch üppiger Fülle, wäre geschmolzen wie Wachs, so daß sie nun anstatt des (bisherigen) fraulichen Eindrucks, den sie gegenüber der kindlichen Dorcas erweckt hatte, wirkte wie eine verblühende Blume, der Herbst gegenüber Dorcas’ Frühling.
    Als wir so entlang eines schmalen, staubigen Ackerweges wanderten, zu beiden Seiten eingeschlossen von Zuckerrohr, das schon höher als mein Kopf stand, ertappte ich mich dabei immer wieder zu überlegen, wie sehr ich sie in der kurzen Zeit, die ich sie kannte, begehrt hatte. Das Gedächtnis, so vollkommen und lebhaft, daß es mich stärker in seinen Bann schlug als jedes Opiat, führte mir die Frau vor Augen, die ich zu sehen geglaubt hatte, als Dorcas und ich eines Nachts um ein Gehölz kamen und in einer Wiese auf Dr. Talos’ lichtüberströmte Bühne stießen. Wie seltsam hatte es mich angemutet, daß sie sich, als wir am strahlendsten Morgen, den ich je erlebte, gen Norden aufbrachen, im Tageslicht als ebenso makellos erwies wie am Abend zuvor im flackernden Schein der Fackeln.
    Liebe und Verlangen, sagt man, seien lediglich Kusinen, und ich habe diese Ansicht geteilt, bis ich, Jolentas schlaffen Arm um meinen Hals geschlungen, an ihrer Seite gegangen bin. Denn eigentlich stimmt’s gar nicht. Meine Liebe zu Frauen war vielmehr die dunkle Seite eines weiblichen Ideals, das ich in mir genährt hatte an Träumen von Valeria und Thecla und Agia, von Dorcas und Jolenta und Vodalus’ Buhlin mit dem herzförmigen

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