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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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wollte, um mich aufzuhalten, und anhand ihrer bleichen Haut schließe ich, daß sie unter der Sonne eines heiteren Tages keinesfalls lange in irgendeinem seichteren Gewässer als dem Gyoll bliebe. Aber nein, wäre sie da gewesen, hätt’ ich sie wohl nicht gesehen – der Fluß war zu aufgewühlt.«
    Dorcas, die nie reizender gewirkt hatte als in diesem Moment, als sie, das Kinn auf die Knie gestützt, auf der Erde saß, schwieg eine Weile und betrachtete offenbar die östlichen Wolken, welche die immerwährend geheimnisvolle Hoffnung auf Dämmerung kirsch- und feuerrot erglühen ließ. Schließlich sagte sie: »Heftigst gewollt muß sie dich haben.«
    »Um sogar aus dem Wasser zu steigen? Ich glaube, sie muß an Land gewesen sein, bevor sie so groß geworden ist, und hat wohl für einen Moment vergessen, daß sie’s nicht mehr könnte.«
    »Aber zunächst schwamm sie den schmutzigen Gyoll und dann dieses schmale Flüßchen herauf. Sie hoffte wohl, dich beim Überqueren ergreifen zu können, kam aber nicht, wie sie merkte, weiter als bis zur Sandbank, also rief sie dich zu sich hinunter. Insgesamt war’s wohl keine angenehme Reise für jemand, der es gewohnt ist, zwischen den Sternen zu schwimmen.«
    »Du glaubst ihr also?«
    »Als ich bei Dr. Talos war und du fort warst, sagten er und Jolenta mir immer, wie einfältig ich sei, Leuten zu glauben, die wir unterwegs trafen, und auch das zu glauben, was Baldanders und sie selbst von sich gaben. Wie dem auch sei, ich glaube sogar, daß Leute, die man Lügner heißt, viel öfter die Wahrheit sagen als lügen. Ist doch viel einfacher! Wenn diese Geschichte von deiner Rettung nicht wahr wäre, warum sie dann erzählen? Daran erinnert zu werden, hätte dir nur Angst machen können. Und wenn sie nicht zwischen den Sternen schwimmt, warum so etwas überhaupt erwähnen? Etwas bedrückt dich trotz allem. Ich kann’s dir ansehn. Was ist’s?«
    Ich wollte ihr nicht meine Begegnung mit dem Autarchen in allen Einzelheiten schildern, also sagte ich: »Ich hab’, ’s ist noch gar nicht lang her, ein Bild gesehn – in einem Buch –von einem Wesen, das in der Kluft lebt. Es hatte Schwingen.
    Keine Vogelschwingen, sondern gewaltige, lückenlose Flügel aus einem dünnen, pigmentierten Material. Flügel, die das Sternenlicht vorantragen könnte.«
    Dorcas sah mich gespannt an. »Ist es in deinem braunen Buch?«
    »Nein, in einem anderen. Ich hab’s nicht hier.«
    »Macht auch nichts. Dabei fällt mir ein, wir wollten nachschauen, was dein braunes Buch über den Schlichter zu sagen hat. Hast du es noch?«
    Ich hatte es noch und zog es hervor. Es war feucht von meinem Wasserbad, so daß ich es öffnete und an eine Stelle legte, wo die Sonne es beschiene und der Wind es bestriche, der aufgekommen war, als das Antlitz der Urth wieder in das ihre blickte. Während wir uns unterhielten, wurden die Seiten wie von unsichtbarer Hand sachte umgeblättert, so daß sich zwischen unseren Worten Bilder von Männern und Frauen und Ungetümen in mein Gedächtnis einprägten, wo sie noch jetzt verwahrt sind. Hin und wieder stachen mir auch Satzfetzen und ganze Abschnitte ins Auge, wenn die metallisch glänzende Tinte im Licht aufblitzte. »Seelenloser Krieger!« – »hellgelb« – »Hinrichtung durch Ertränken.« Später: »Diese Zeit ist die alte Zeit, da die Welt alt ist.« Und: »Die Hölle hat weder Schranken, noch ist sie zu begrenzen; denn wo wir sind, das ist die Hölle, und wo die Hölle ist, da müssen wir sein.«
    »Willst du es jetzt nicht lesen?« fragte Dorcas.
    »Nein. Ich will wissen, was Jolenta geschehen ist.«
    »Ich weiß es nicht. Ich schlief und träumte … was ich immer träume. Und ich ging in den Spielzeugladen. In den Wandregalen waren Puppen, und Puppen saßen auf der Mauerkrönung eines Schachtes in der Mitte des Fußbodens. Ich überlegte, daß mein Kindchen zu jung für Puppen sei, aber sie waren so hübsch, und ich hatte seit meiner Kindheit keine mehr gehabt; also würde ich eine kaufen und für das Kindchen aufheben und könnte sie bis dahin manchmal vielleicht hervorholen und betrachten und vor den Spiegel in meinem Zimmer stellen. Ich zeigte auf die schönste von allen, was eine von denjenigen auf der Mauerkrönung war, und als der Verkäufer sie mir holte, sah ich, daß sie Jolenta war, und sie fiel ihm aus der Hand. Sie fiel sehr tief, auf das schwarze Wasser zu. Dann wurde ich wach. Selbstverständlich sah ich nach ihr, ob alles in Ordnung wäre

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