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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Muskeln und Knochen auf, wie man ein Stück Abfall zum Wegwerfen aufheben würde.
    »Du hast Fieber. Die Peitsche hat dich getroffen, aber du wirst wieder gesund, so daß wir ausbrechen und Jolenta finden können.«
    Jonas nickte. »Weißt du noch, wie sie, als wir uns dem Ende des Erbärmlichen Tores genähert haben, inmitten des Tumults den Kopf umgewandt hat, so daß der Sonnenschein auf eine Wange gefallen ist?«
    Ich bejahte.
    »Ich hatte noch nie vorher geliebt, die ganze Zeit seit der Zerstreuung unserer Mannschaft nicht.«
    »Wenn du nichts mehr essen kannst, solltest du dich jetzt ausruhen.«
    »Severian.« Er packte mich wiederum an der Schulter, aber diesmal mit der Stahlhand, was sich wie ein Schraubstock anfühlte. »Sprich zu mir! Sie sind mir unerträglich, meine wirren Gedanken.«
    Eine ganze Weile erzählte ich, was mir in den Sinn kam, ohne eine Antwort zu erhalten. Dann fiel mir Thecla ein, die oft ähnlich bedrückt gewesen war, und daß ich ihr vorgelesen hatte. Also holte ich ihr braunes Buch hervor und schlug es an beliebiger Stelle auf.

 
     
XVII
 
Die Geschichte vom Studenten
und seinem Sohn
     
ERSTER TEIL
Die Feste der Zauberer
     
    Es stand einmal eine Stadt mit hellen Türmen am Rande eines unwirtlichen Meeres. Darin wohnten die Weisen. Und in dieser Stadt herrschten Gesetz und Ordnung, aber es lag auch ein Fluch auf ihr. Das Gesetz besagte, daß für alle Bewohner nur zwei Wege offenstünden: zu den Weisen aufzusteigen und die bunte Kapuze zu tragen, oder aber die Stadt zu verlassen und in die unfreundliche Welt zu ziehen.
    Nun gab es einen, der alle in der Stadt – und damit größtenteils auch auf der ganzen Welt – bekannten Zauberkünste in langen Jahren erlernt hatte. Und es nahte die Zeit, da er seinen Weg wählen mußte. Im Hochsommer, als die Blumen ihre gelben, dreisten Köpfchen aus den dunklen Mauern über dem Meer steckten, suchte er einen der Weisen auf, welcher sein Haupt schon länger mit den bunten Farben bedeckte, als die meisten sich erinnern konnten, und den Studenten, dessen Zeit gekommen war, lange unterwiesen hatte. Und er sagte zu ihm: »Wie kann ich – der ich doch nichts weiß – einen Platz unter den Weisen der Stadt erlangen? Denn ich möchte Zauberkünste studieren, die nicht all mein Lebtag heilig sind, und nicht in die unfreundliche Welt ziehen, um für mein Brot zu graben und zu schleppen.«
    Der Greis lachte und erwiderte: »Erinnerst du dich, wie ich dich, als du fast noch ein Knabe gewesen bist, die Kunst gelehrt habe, aus Träumen Söhne fleischwerden zu lassen? Wie warst du seinerzeit geschickt und übertrafest alle andern! Geh nun und lasse einen solchen Sohn fleischwerden, und ich will ihn den Kapuzenträgern zeigen, und du wirst sein wie wir.«
    Aber der Student wandte ein: »Noch eine Jahreszeit. Gewähre mir noch eine Jahreszeit, und ich will tun, was du mir rätst.«
    Der Herbst brach an, und die Plantanen der Stadt der hellen Türme, welche die hohen Mauern vor den Seebrisen schützten, warfen ihre Blätter ab wie das Gold, das ihre Eigentümer herstellten. Und die Wildgänse flogen um die hellen Türme, und hintendrein die Fischadler und Lämmergeier. Nun schickte der Greis abermals nach jenem, der sein Student gewesen war, und sagte: »Jetzt mußt du aber ein Traumgeschöpf für dich fleischwerden lassen, wie ich dich geheißen. Denn die anderen Kapuzen träger verlieren die Geduld. Du bist bis auf uns der älteste in der Stadt, und wenn du nun nicht handelst, werden sie dich bis zum Winter wohl hinauswerfen.«
    Aber der Student entgegnete: »Ich muß weiter studieren, um zu bewerkstelligen, was ich erstrebe. Kannst du mich nicht für eine Jahreszeit beschützen?« Und der Greis, der ihn unterrichtet hatte, dachte an die Schönheit der Bäume, die sein Auge seit so vielen Jahren wie die weißen Gliedmaßen der Frauen entzückt hatten.
    Schließlich verging der goldene Herbst, und ins Land zog der Winter von seinem frostigen Sitz, wo die Sonne wie eine vergoldete Kugel über den Rand der Welt rollt und die Feuer, die zwischen den Sternen und der Urth treiben, den Himmel in Brand stecken. Seine eisige Hand verwandelte die Wogen in Stahl, und die Stadt der Zauberer hieß ihn willkommen, indem sie ihre Balkone mit Eisfahnen und ihre Dächer mit einer Schneedecke schmückte. Wieder ließ der Greis den Studenten rufen, und wieder erteilte dieser die gleiche Antwort.
    Der Frühling kam und mit ihm Freude in die ganze Natur, aber die Stadt war

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