Die Klaue des Schlichters
ich mich an Jonas. »Du hast recht. Über dieser Decke ist eine weitere, für ein viel kleineres Zimmer. Woher weißt du das?«
»Ich hab’ mit diesen Leuten geredet. Gestern.« Er hob die Hände, sowohl die Hand aus Stahl als auch die Hand aus Fleisch, und schien sich mit beiden das Gesicht zu reiben. »Schick bitte dieses Kind fort!«
Ich sagte dem kleinen Mädchen, es solle zu seiner Mutter gehen. Allerdings vermutete ich, daß es nur davongegangen ist, um dann entlang der Wand wieder zurückzuschleichen, bis es wieder in Hörweite war.
»Ich fühle mich wie beim Erwachen«, erklärte Jonas. »Ich glaube, ich habe gestern gesagt, daß ich fürchte, den Verstand zu verlieren. Nur glaube ich, zu klarem Verstand zu kommen, was nicht besser oder schlimmer ist.« Er hatte auf der Leinenmatte, unserem Nachtlager, gesessen. Nun lehnte er an der Wand, gleichsam wie die Toten, die mir, mit dem Rücken zu einem Baum sitzend, zuweilen zu Gesicht gekommen waren. »Ich habe viel gelesen an Bord des Schiffes. Einmal las ich eine Historie. Ich glaube nicht, daß du davon eine Ahnung hast. So viele Jahrtausende sind hier verstrichen.«
»Wohl nicht«, sagte ich.
»Ganz anders als das, und zugleich ganz ähnlich. Komische kleine Gebräuche und Gepflogenheiten … einige waren gar nicht so klein. Seltsame Einrichtungen. Ich fragte, und das Schiff gab mir ein anderes Buch.« Er schwitzte noch. Offenbar redete er im Fieber. Ich benutzte das Wolltuch, das ich zum Abwischen meiner Schwertklinge bei mir führte, um ihm die Stirn abzutupfen.
»Erbliche Herrschaft und erbliche Knechtschaft. Allerlei Wunderliche Ämter. Lanzenträger mit langen, weißen Schnurrbärten.« Der Schatten seines alten, lustigen Lächelns huschte über sein Gesicht. »Der Weiße Ritter rutscht den Schürhaken hinunter. Er balanciert schlecht, wie das Merkbuch des Königs ihm gesagt hat.«
Im anderen Ende des Raumes kam Unruhe auf. Gefangene, die geschlafen oder in kleinen Gruppen leise geplaudert hatten, erhoben sich und gingen darauf zu. Jonas meinte offenbar, daß ich mich ihnen anschlösse, und ergriff meine Schulter mit der linken Hand; sie fühlte sich weich wie die einer Frau an. »Nichts davon hat so begonnen.« Seine zitternde Stimme hatte einen dringlichen Unterton bekommen. »Severian, der König wurde auf dem Marsfeld gewählt. Grafen wurden vom König ernannt. Das alles war im sogenannten finsteren Mittelalter. Ein Baron war nur ein lombardischer Freiherr.«
Das kleine Mädchen, das ich zur Decke gehoben hatte, erschien wie aus dem Nichts und rief uns zu: »Es gibt Essen. Wollt ihr nicht kommen?«, und ich stand auf und sagte: »Ich hole uns etwas. Vielleicht geht’s dir dann wieder besser.«
»Es wurde Gewohnheit daraus. Es dauerte alles zu lange.« Als ich zu der Menschenansammlung ging, hörte ich ihn sagen: »Das Volk war ahnungslos.«
Mit kleinen Brotlaiben unter dem Arm, kamen die Gefangenen zurück. Als ich zur Tür gelangt war, hatte das Gedränge etwas nachgelassen, und ich konnte sehen, daß die Türflügel offenstanden. Dahinter wachte im Korridor ein Diener mit einer hohen Mütze aus weißem, gestärktem Mull über einen silbernen Servierwagen. Die Gefangenen verließen sogar das Vorzimmer und umringten diesen Mann. Ich folgte ihnen mit dem flüchtigen Gefühl wiedererlangter Freiheit.
Die Illusion wurde mir auch bald genommen. Hastarii standen an beiden Enden des Korridors und riegelten ihn ab, und zwei weitere verwehrten mit gekreuzten Waffen den Durchgang zur Tür, die in den Born des Grünen Glockenspiels führte.
Jemand tippte mir auf den Arm, und ich erblickte, als ich mich umwandte, die weißhaarige Nicarete. »Du mußt dir was nehmen«, sagte sie. »Wenn nicht für dich, so wenigstens für deinen Freund. Sie bringen nie genug.«
Ich nickte und konnte, indem ich über die Köpfe mehrerer Leute griff, zwei klebrige Laibe erbeuten. »Wie oft bekommen wir zu essen?«
»Zweimal täglich. Du bist gestern kurz nach der zweiten Speisung gekommen. Jeder versucht, nicht zu viel zu nehmen, aber es wird nie genug gebracht.«
»Das ist ja Kuchen«, sagte ich. Zuckerguß, mit Zitrone, Muskat und Kurkuma abgeschmeckt, klebte an meinen Fingerspitzen.
Die Greisin nickte. »Gibt’s jeden Tag, wenn auch immer anderen. In dieser Silberkanne ist Kaffee, und Tassen stehen auf dem unteren Fach des Wagens. Die meisten, die hier eingesperrt sind, mögen und trinken ihn nicht. Ein paar wissen wohl nicht einmal davon.«
Das ganze
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