Die Klaue des Schlichters
Student, sich dort, wo er saß, umzuwenden, und sah vor sich einen breitschultrigen, muskelgewaltigen Jüngling von edler Haltung. Gebieterisch war sein fester Mund, Klugheit in seinen strahlenden Augen und Mut in seinem ganzen Antlitz. Auf seiner Stirn saß jene Krone, die für das Auge unsichtbar ist, die aber selbst ein Blinder gewahrt; die unschätzbare Krone, die tapfere Männer zum Ritter drängt und Schwächlinge tapfer macht. Nun sagte der Student: »Mein Sohn, fürchte nicht, mich zu stören, jetzt und nie, denn es gibt nichts unter dem Himmel, was ich lieber sähe als dein Gesicht. Was ist es, das dich plagt?«
»Vater«, erwiderte der Jüngling, »jede Nacht seit vielen Nächten gellen Frauenschreie durch meinen Schlaf, und oft sehe ich wie einen durch Flötenspiel angelockten grünen Lindwurm eine Grüne Schlange über das Kliff unter unserer Stadt zum Kai hinabgleiten. Und manchmal ist es mir in meinem Traum gegönnt, näherzutreten, und ich sehe, daß alle in dieser Menschenschlange schöne Frauen sind, die weinen und schreien und wanken, so daß ich sie für ein junges Kornfeld halten möcht’, das ein ächzender Wind niedermäht. Was hat dieser Traum zu bedeuten?«
»Mein Sohn«, versetzte der Student, »die Zeit ist gekommen, dir etwas zu sagen, was ich dir bis jetzt verschwiegen habe aus Furcht, du könntest ob deiner ungestümen Jugend zu viel wagen, ehe die Zeit reif wäre. Wisse, daß diese Stadt von einem Ungeheuer heimgesucht wird, welches Jahr um Jahr ihre schönsten Töchter fordert, genau wie du es in deinem Traum gesehen hast.«
Funkelnden Blickes begehrte der Jüngling: »Was ist das für ein Ungeheuer, und wie ist seine Gestalt, und wo haust es?«
»Seinen Namen kennt niemand, denn niemand vermag sich ihm zu nähern. Seine Gestalt ist die eines Naviscaputs, das heißt, den Menschen erscheint es als Schiff, auf dessen Deck – das eigentlich aus seinen Schultern besteht – eine Burg steht, welche sein Kopf ist, und in der Burg befindet sich ein einzelnes Auge. Aber sein Leib schwimmt in der Tiefe mit dem Rochen und Haifisch, seine Arme sind länger als die höchsten Masten und seine Beine wie Pfähle, die bis zum Meeresgrund reichen. Sein Hafen ist eine Insel im Westen, wo ein Kanal mit vielen Windungen und Biegungen, der sich teilt und wieder teilt, weit ins Landesinnere vordringt. Auf dieser Insel, so ist überliefert, müssen die Kornjungfern leben; und dort ankert mitten unter ihnen das Ungeheuer, dessen Auge immerfort hin- und herrollt, um sie in ihrer Verzweiflung zu betrachten.«
DRITTER TEIL
Die Begegnung mit der Prinzessin
Nun machte sich der Jüngling auf und scharte andere Jünglinge der Stadt der Zauberer als Besatzung um sich, und von jenen, welche die bunten Kapuzen trugen, erhielten sie ein seetüchtiges Schiff, und den ganzen Sommer lang rüsteten er und die Jünglinge, die er um sich geschart hatte, das Schiff, bestückten seine Seiten mit den mächtigsten Geschützen und übten hundertmal das Setzen und Reffen der Segel und Abfeuern der Kanonen, bis das Schiff ihnen gehorchte wie eine Vollblutstute den Zügeln. Aus Mitleid für die Kornjungfern tauften sie es Jungfernland.
Als schließlich die goldenen Blätter wieder von den Plantanen fielen (genau wie das Gold, das die Zauberer herstellen, schließlich aus den Händen der Menschen fällt), und die grauen Wildgänse um die hellen Türme der Stadt flogen und hintendrein die Lämmergeier und Fischadler, stachen die Jünglinge in See. Viel widerfuhr ihnen auf ihrer langen Reise zur Insel des Ungeheuers, wofür hier kein Platz wäre; aber am Ende ihrer Abenteuer sichteten sie Land mit gelbbraunen, grüngesprenkelten Hügeln; und noch während sie, um es zu betrachten, die Augen beschatteten, wurde das Grün dichter und immer dichter. Nun wußte der Jüngling, der aus den Träumen des Studenten Fleischgewordene, daß es fürwahr die Insel des Ungeheuers war, und daß die Kornjungfern beim Anblick seiner Segel zur Küste eilten.
Nun wurden die großen Kanonen bereitet und die Flaggen der Stadt der Zauberer, die ganz gelb-schwarz sind, aufgezogen. Sie fuhren nahe und näher heran, bis sie befürchten mußten, auf Grund aufzulaufen, wendeten und segelten an der Küste entlang. Die Kornjungfern folgten ihnen und lockten dabei immer mehr Schwestern an, bis sie das ganze Land fürwahr wie Korn bedeckten. Der Jüngling vergaß indes nicht, was ihm gesagt worden war: daß das Ungeheuer unter den Kornjungfern
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