Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
mehr mit der nötigen Aufmerksamkeit lauschen.
Nachdem wir uns anhand der CT-Bilder einen ersten Eindruck verschafft haben, beginnen Dr. Probst und ich, unterstützt von unserer Sektionsassistentin Katharina Gersten, mit der Obduktion des Kopfes. Als Erstes sehen wir uns die Tätowierungen genauer an, mit denen Leon Feldgärtners Kopf geschmückt ist. Hinter dem linken und dem rechten Ohr ist jeweils ein Segelschiff von gut fünf Zentimeter Länge eintätowiert. Erst nachdem Katharina Gersten das Haupthaar an der linken Kopfseite des Toten abrasiert hat, kommt ein bogenförmiger Schriftzug zum Vorschein, der um das Ohr herumläuft: Live to shave.
»Dann steht über dem rechten Ohr garantiert Shave to live «, sage ich voraus – und treffe damit ins Schwarze. Nachdem die Sektionsassistentin auch die rechte Kopfhälfte rasiert hat, ist die von mir prophezeite Inschrift klar und deutlich zu lesen. Jeder der beiden bogenförmigen Schriftzüge ist rund 19 Zentimeter lang.
Hauptkommissar Wittigs fragender Blick ist mir nicht entgangen. »Das mit Shave to live war geraten«, sage ich zu ihm. »Ich habe diesen Kopf noch nie gesehen, geschweige denn vorher schon einmal bei seiner Rasur zugeschaut.«
Wir zählen insgesamt 52 Gesichts- und Kopfverletzungen, die auf stumpfe, halbscharfe und scharfe Gewalteinwirkung zurückzuführen und in bestimmten Kopf- und Gesichtsregionen gruppiert sind – vor allem im Kieferbereich, in der Stirnregion und im Schädeldach. Ober- und Unterkiefer sind linksseitig zertrümmert.
In der Rechtsmedizin werden unter dem Oberbegriff Verletzungen durch scharfe Gewalteinwirkung Stich- und Schnittverletzungen subsumiert; also typischerweise durch Messer, Schwerter, Scheren oder andere Werkzeuge mit scharfen Klingen verursachte Wunden. Folgen halbscharfer Gewalteinwirkung sind Verletzungen durch Beile oder Äxte oder andere Werkzeuge beziehungsweise Instrumente mit scharfen Kanten wie Schraubenzieher oder Meißel. Stumpfe Gewalteinwirkung schließlich ist der Oberbegriff für ganz unterschiedliche, flächenhaft auf den Körper einwirkende Gewaltformen wie Schläge mit der Faust oder Knüppeln, Fußtritte, aber auch der Aufschlag des Körpers auf harten Untergrund oder auf Gegenstände bei einem Sturz.
Wie brutal der Täter in unserem Fall mit einem scharfkantigen Werkzeug – sehr wahrscheinlich einer Axt oder einem Beil – zugeschlagen hat, zeigt ein klaffender Defekt des tiefen Rachens von Leon Feldgärtner. Die Einblutungen in dem umgebenden Weichgewebe und der Muskulatur beweisen, dass der junge Mann zu diesem Zeitpunkt noch am Leben war. Diese schwerste Verletzung seines Gesichtsschädels führte in Verbindung mit der massiven Blutaspiration in Bronchien und beiden Lungenflügeln, die wir bei der Obduktion seines Torsos festgestellt hatten, letztlich zum Tode.
Das Stirnbein ist durch zwei scharfkantige Brüche gespalten. Darüber hinaus stellen wir allein in der rechtsseitigen Scheitelregion sieben scharfkantige Verletzungen fest, die unterblutet sind, also dem Opfer ebenfalls mit Sicherheit zu Lebzeiten zugefügt wurden. Das knöcherne Schädeldach ist gleichfalls durch Axt- oder Beilhiebe zerstört, die Hirnmasse liegt frei. Auch diese Verletzung wurde dem Opfer beigebracht, als es noch am Leben war.
»Der Täter, den Sie suchen, Herr Wittig«, fasse ich um 4:30 Uhr morgens unser Obduktionsergebnis zusammen, »ist mit unbedingtem Tötungswillen und außergewöhnlicher Brutalität vorgegangen. Er hat mit einer Axt oder einem Beil über einen längeren Zeitraum systematisch auf Gesicht und Kopf eingeschlagen, während sein Opfer noch am Leben war. Letztlich ist Leon Feldgärtner an einem Schädel-Hirn-Trauma verstorben. Aber falls er auch nur einige dieser Axthiebe bewusst miterlebt hat, muss er höllische Schmerzen erlitten haben. Auch mindestens ein Messer kam zum Einsatz, wobei aufgrund der Fäulnisveränderungen von Gesichts- und Kopfhaut und darunterliegendem Weichgewebe nicht sicher abzugrenzen ist, welche Stiche und Schnitte ihm noch zu Lebzeiten zugefügt wurden. Und dann wurde ihm noch mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf geschlagen. Worum es sich bei diesem Gegenstand handelte, lässt sich allerdings zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.«
Genau eine Woche nach Auffindung des Torsos durch die beiden Angelfreunde meldet sich bei der Kriminalpolizei telefonisch ein Zeuge. Seit die Ermittler die Bevölkerung über die Medien um Mithilfe gebeten haben, stehen bei
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