Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
nochmals die Auffindesituation schildern lässt, ruft seine Kollegin Beate Lückertz bei uns im Institut für Rechtsmedizin an und bittet um eine erste rechtsmedizinische Untersuchung des Torsos noch am Fundort.
Mit zwei Mitarbeitern für den Leichentransport macht sich mein Kollege Dr. Lilienthal auf den Weg in den Osten der Stadt. Als sie in Oberschöneweide eintreffen, befindet sich der blaue Sack mitsamt seinem makabren Inhalt noch im aufgeklappten Koffer.
Dr. Lilienthal zieht sich Handschuhe an, ehe er vorsichtig den Plastiksack öffnet und hineinsieht. Der Torso liegt auf dem Rücken. Seine Vorderseite ist mit umfangreichen und offenbar recht kunstvoll ausgeführten Tätowierungen bedeckt.
»Wir packen ihn am besten erst im Institut aus, um dort die Spuren zu sichern«, schlägt Dr. Lilienthal vor.
Hauptkommissar Wittig ist einverstanden. »Bitte bereiten Sie alles für eine Sofortobduktion vor«, sagt er. »Ich spreche gleich mit dem Staatsanwalt, damit er Ihnen den entsprechenden Auftrag erteilt. Wir müssen so schnell wie möglich herausfinden, wer das Opfer ist.«
»Ich hätte da eine Idee«, steuert Oberkommissarin Lückertz bei. Sie zeigt auf ein heruntergekommenes Gebäude gut hundert Meter spreeaufwärts. »Da drüben ist doch diese Rocker-Disco Hellhound. Es würde mich nicht wundern, wenn der Mann im Koffer von seinen Rocker-Kumpels in Stücke gehackt worden wäre.«
Der Hauptkommissar sieht seine jüngere Kollegin nachdenklich an. »Die Tätowierungen und die brutalen Verstümmelungen – das könnte zu einem Mord im Rocker-Milieu passen«, stimmt er ihr zu. »Aber vielleicht will uns der Täter ja auch auf eine falsche Fährte locken.«
Er verabschiedet sich von Dr. Lilienthal und den Institutsmitarbeitern, die sich mitsamt dem Koffer auf den Rückweg machen.
»Warten wir die Obduktion ab«, fügt Dominic Wittig hinzu. »Vielleicht wissen wir danach schon mehr.«
Aber einen Toten ohne Kopf, Arme und Beine zu identifizieren ist äußerst schwierig, das ist auch dem Hauptkommissar bewusst. Vielleicht waren hier wirklich Profis am Werk, sagt er sich, die gezielt alle Körperteile beseitigt haben, anhand deren Tote normalerweise identifiziert werden können: Gesicht, Gebiss und Hände. Allerdings hat es der erfahrene Kriminalbeamte in seiner Laufbahn auch schon mehrfach erlebt, dass Täter nach einem ungeplanten Tötungsdelikt die Leiche des Opfers zerstückelt haben, um die Einzelteile leichter abtransportieren zu können. In dieser frühen Phase der Ermittlungen kann und will Wittig keine Möglichkeit ausschließen. Ein Gewaltverbrechen in der Rocker-Szene kommt ebenso in Frage wie die Affekttat eines Gelegenheitstäters.
Noch am Abend desselben Tages obduzieren Dr. Lilienthal und ich den Torso. Vorher wird die Plastiktüte mitsamt Inhalt gewogen. Das Gewicht beträgt zwanzig Kilogramm. Anschließend ziehen zwei Kriminalisten vom KTU-Team den Torso aus dem Müllsack und legen ihn auf den Seziertisch. Den Plastiksack nehmen sie mit, um ihn anschließend kriminaltechnisch zu untersuchen.
Der Torso des unbekannten Toten ist an der Brust und im Schulterbereich dunkel behaart und gehört zu einem erwachsenen, offenkundig männlichen Individuum, dessen Alter wir auf zwanzig bis dreißig Jahre schätzen.
Der Kopf des Mannes wurde am Übergangsbereich von Hals und Rumpf abgetrennt, die Arme auf Höhe der Schultergelenke. Die untere Abtrennlinie verläuft etwa in Nabelhöhe oberhalb des Beckens; die Beckenknochen fehlen vollständig. Die Haut weist am Rücken spärliche Totenflecken auf, die sich nicht mehr wegdrücken lassen, und sieht ansonsten unauffällig aus. An Fäulniszeichen können wir nur eine beginnende, diskrete grünlich-gräuliche Verfärbung der Muskulatur an den Abtrennungsstellen feststellen. Anhand dieser Befunde schätzen Dr. Lilienthal und ich übereinstimmend, dass der Tod vor 36 bis 48 Stunden eingetreten ist; das ist allerdings kaum mehr als eine vage Vermutung.
Von den inneren Organen sind nur noch Lunge und Herz sowie kleine Teile der linken Niere und der Leber vorhanden. Interessanterweise zeigen sich an den Amputationsstellen verschiedenartige Schnitt- und Hiebspuren, die auf den ersten Blick so aussehen, als ob zur Abtrennung der Extremitäten unterschiedliche Werkzeuge verwendet wurden. Einblutungen in die Haut oder in das angeschnittene Unterhautfettgewebe lassen sich allerdings an den Amputationsstümpfen nicht nachweisen. Offenbar wurde das Opfer also nicht
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